Katja Diehl (sie/ihr)

„Wenn Diversität ernsthaft gelebt wird, ist es eine Befreiung aller, auch derer, die sich gerade in der Macht fühlen.“
Was hat Mobilität mit Diversität zu tun? Mir fiel dazu als erstes die fehlende Barrierefreiheit ein, aber du nennst in deinen Büchern noch viele weitere Dimensionen.

Da das deutsche Verkehrssystem überwiegend von weißen, mittelalten Männern konzipiert wurde, befördert es so ziemlich alle -ismen, die es so gibt, etwa Sexismus: Frauen fühlen sich im öffentlichen Verkehr nicht sicher. Laut einer britischen Studie haben 51 Prozent der Mädchen zwischen 13 und 18 bereits Belästigung im öffentlichen Raum erfahren, zu dem Busse und Bahnen nun mal zählen. Bei den 11- bis 13-Jährigen waren es 29 Prozent. Und es gibt Studien, die belegen, dass Frauen, die so etwas erfahren haben, versuchen andere Wege zu gehen. Wenn die einen Führerschein machen können, hüpfen die ins Auto. In meinen Interviews habe ich mit einer schwarzen Frau mit Kindern in Berlin gesprochen. Auch sie fährt lieber Auto, weil sie keine Lust mehr auf die Mikroaggressionen in der Bahn hat. Aber die Menschen, die sich kein Auto leisten können, müssen in den Bahnen bleiben, wo sie belästigt werden. 14,2 Millionen Menschen leben mittlerweile in Armut. Ein Auto kostet aber mehrere 100 Euro im Monat, der Führerschein in manchen Gegenden von Deutschland auch schon fast 5.000 Euro. Es geht also um Klassismus, aber auch Adultismus spielt eine Rolle: Nur noch 45 Prozent der Kinder in Deutschland sind überhaupt täglich draußen an der frischen Luft. Sie werden von geschlossenem Raum zu geschlossenen Raum gebracht, weil es draußen so gefährlich ist wegen der Autos. Dazu kommt die Belastung durch Mikroplastik. Reifenabrieb ist hier die größte Quelle. Die Eltern sind hier Täter:innen und Opfer zugleich, weil sie Automobilität replizieren, indem sie nicht dagegen aufbegehren, aber andererseits auch Angst haben, das Kind alleine auf dem Rad losziehen zu lassen.

Eigentlich krass, oder? Mobilität ist so eine wichtige Stellschraube für mehr Gerechtigkeit, wird aber nur selten als solche wahrgenommen.

Absolut. Wir sprechen zwar von Klimagerechtigkeit, aber ich habe manchmal das Gefühl, wir kümmern uns nur um CO2 und die Gerechtigkeit ist „nice to have“. Dabei macht die Mobilitätswende auch ohne die Klimakatastrophe Sinn. Weil es ein ungerechtes System ist. Denn es spiegeln sich hier alle Probleme, die wir in der Gesellschaft haben. Und dazu kommt noch: Viel mehr Menschen, als man denkt, wollen oder können kein Auto fahren – weil sie zu alt sind, kognitiv nicht in der Lage dazu sind oder es sich psychisch nicht zutrauen. Wir haben eine Mobilitätsarmut in Deutschland – dabei geht es nicht nur um monetäre Armut, sondern auch um den Zugang zu Mobilität. Und manchmal kommt beides zusammen, zum Beispiel bei älteren Frauen. Diese sind am häufigsten von Altersarmut betroffen, aber auch von der Generation, die oft nicht mal Führerschein gemacht hat. Stirbt der Mann oder kann dieser nicht mehr Auto fahren, sind sie im ländlichen Raum völlig abgeschnitten.

Deswegen habe ich mein zweites Buch auch „Raus aus der Autokratie“ genannt. In erster Linie ist es natürlich einfach ein Wortspiel, aber natürlich möchte ich damit auch zum Nachdenken darüber anregen, wie demokratisch die Fokussierung aufs Auto eigentlich ist. Im Grundgesetz steht, jeder hat ein Recht auf ein unversehrtes Leben und dass ich mich frei entfalten darf, solange ich gewisse Gesetze einhalte. Ich kann mich aber nicht frei entfalten, wenn ich keinen Führerschein habe. Ich kann dann nicht aufs Land ziehen, dort bin ich dann total eingeschränkt. Als Mensch, der nicht Autofahren will oder kann, habe ich keine freie Wohnortwahl.

Wie sieht deiner Meinung nach ein gerechtes Verkehrssystem aus?

Für mich ist Gerechtigkeit erst dann erreicht, wenn ich sagen kann, ich habe immer die Wahl: Ich kann Auto fahren oder auch sicher Rad fahren oder habe, wie in Österreich und der Schweiz, ein Bahnsystem, das wirklich funktioniert.

 

Was muss sich ändern, damit Mobilitätsgerechtigkeit erreicht wird?

Wie bei allen Themen der Transformation ist es auch hier so, dass Menschen immer davon ausgehen, was mir passt, passt auch allen andern. Das ist gar nicht böswillig gemeint. Leute, für die das System gut funktioniert, verstehen überhaupt nicht, warum man daran etwas ändern soll. Daher verteidigen viele teils über die Maße den Status Quo, weil sie einfach keine Menschen kennen, die andere Bedürfnisse haben als sie selbst. Das ist auch der Grund, warum Leute nach wie vor auf Rammstein-Konzerte gehen – sie weigern sich, die Perspektive der Frauen aus Row Zero einzunehmen. Ich verstehe einfach nicht, warum die Leute nicht einen Schritt weitergehen und versuchen, eine Welt zu schaffen, die für möglichst viele Leute passt, nicht nur für sie selbst.

Und bei der Mobilitätswende ist es doch so: Wir müssen sowieso etwas tun, die Städte heizen sich auf und da ist das Auto ein echtes Problem. In Erdgeschosswohnungen, neben denen Autos parken, ist es messbar heißer. Dazu kommt die Versiegelung. Noch haben wir Zeit, in die Gestaltung zu gehen. Wenn es irgendwann zum Zwang wird, macht es keinen Spaß mehr.

Die Fokussierung auf das Auto ist ein strukturelles Problem, bei dem Politik und Wirtschaft gefragt sind. Trotzdem braucht es doch auch einen Bewusstseinswandel von unten. Was kann aus deiner Sicht jeder und jede Einzelne machen, damit sich etwas bewegt?

Ich merke in Teilen meiner Klima-Bubble, dass viele ins Cocooning gehen, also sagen: Wir sorgen für unseren Tribe, schauen, dass es uns gut geht und schaffen uns zum Beispiel resiliente Nachbarschaften. Ich kann das verstehen, das ist der Impuls, der uns auch anerzogen wurde, aber es ist wieder mal der falsche Move. Wieder denken die Leute nur an sich selbst. Das ist auch der Grund, warum im Ahrtal Menschen mit Behinderung ertrunken sind. An sie hat mal wieder keiner gedacht. Ich kann einfach nur dazu auffordern, nicht darauf reinzufallen. Sorgt für euch, aber schaut immer auch: Wo geht’s den anderen hier schlecht?

Beim Thema Mobilität heißt das auch, die eigene Automobilität mal zu hinterfragen: Muss ich den Weg jetzt wirklich mit dem Auto machen oder habe ich eine andere Möglichkeit? Ist es vielleicht auch mal spannend, mit den Kids am Wochenende Fahrrad zu fahren oder Bus und Bahn. Hier geht es auch darum, ihre Neugier anzustacheln. Beim Autofahren sind die Kinder entwurzelt, es gibt kein Bonding, sie sehen die Eltern nur im Rückspiegel. Fahrrad- oder Bahnfahren dagegen sind gemeinsame Unternehmungen, da guckt man gemeinsam durch die Gegend. Das ist auch besser für die kognitive Entwicklung der Kinder.

Wenn du eine Sache in Deutschland sofort verändern könntest, was wäre das?

Dass im Verkehr die am meisten zählen, die am schwächsten sind.

Was bedeutet Diversität für dich?

Für mich ist Diversität das Credo: Wenn es allen gut geht, geht es auch mir besser. Für mich als weiblich gelesene Person bedeutet das auch ganz konkret ein leichteres Leben. Zeit meines Lebens wurde mir gesagt: Du bist zu laut, du bist zu dies, du bist zu das … und ich habe mich immer gefragt: Wo ist die Base Line? Im Vergleich zu wem oder was bin ich zu laut? So viele Leute unterwerfen sich der Homogenität und haben damit totale Probleme. Wenn Diversität ernsthaft gelebt wird, ist es eine Befreiung aller, auch derer, die sich gerade in der Macht fühlen.

Warum profitieren auch diejenigen in gesellschaftlichen Machtpositionen von Diversität?

Männer sterben mit häufiger an Herzinfarkt, haben häufiger Alkoholismus, brauchen dicke Autos oder absurde Urlaubsreisen. Ich glaube, dass viele Leute, die in Macht sind, sehr im Außen sind. Macht ist etwas Fragiles, Geliehenes. Machterhalt sollte auch kein Antrieb in der Politik sein, vielmehr sollte Politik etwas so, wo man Vertrauen aufbaut, verlässlich ist, etwas hinterlassen will in dieser Welt.

Hast du zum Abschluss Positivbeispiele für eine gelungene Mobilitätswende?

Paris ist natürlich ein viel zitiertes Beispiel. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat unglaublich schnell sehr viel erreicht. Wobei man auch sagen muss: Die Begeisterung war in Paris nicht immer so groß, weil Veränderung immer auch Schmerzen bedeutet. Leute, denen es vorher richtig gut ging, mussten ein paar Kompromisse eingehen. Kopenhagen und Amsterdam sind gute Beispiele. In den Niederlanden gab es mit „Stop de Kindermoord“ / „Stoppt den Kindermord“ schon vor 40 Jahren deutliche Gegenwehr. Für mein Buch habe ich auch Herman Knoflacher interviewt, der mit anderen in den 70er Jahren Pläne für eine Stadtautobahn in Wien verhindert hat. Es braucht Leute wie ihn, die hinterfragen: Brauchen wir wirklich mehr Autobahnen oder brauchen wir etwas anderes? Das ist für mich motivierend: Menschen wie er, die gegen dieses „Weiter-So“ aufbegehren.

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