Karen Schallert (sie/ihr)
Es geht darum, sich von dem Gedanken freizumachen, dass mich die Behinderung nur limitiert - mich dazu verdammt, lediglich die Krümel aufzusammeln.
Ich bin Karen Schallert und setze mich als Aktivistin und Expertin für Inklusion mit meiner Firma „HandicapUnlimited“ für das Thema “Behinderung in der Arbeitswelt” ein.
Mein beruflicher Einstieg begann nach meinem Studium in Deutschland und den USA im Sicherheitsdienst und führte mich über die Deutsche Post zu McKinsey und schließlich in den internationalen Anlagenbau, wo ich lange als Personalleiterin tätig war. Doch dann zwang mich meine Gesundheit, eine Multiple Sklerose Diagnose, zu einer zweijährigen Pause, in der ich meine beruflichen Aktivitäten unterbrechen musste. Nach dieser Zeit machte ich mich selbstständig und setzte mich seitdem als Unternehmensberaterin und Coach mit meiner Firma „HandicapUnlimited“ auch für das Thema “Karriere mit Behinderung” ein.
Privat bin ich seit 2014 verwitwet und meine drei Stiefsöhne begleiten mich durch mein Leben. So durfte ich auch schon zwei Mal das Glück erleben, Oma zu werden.
Wenn ich könnte, würde ich gerne alle Menschen mit Behinderung sichtbarer machen. Ich bin der Überzeugung, dass nur so wahre Veränderung durch einen Dialog entstehen kann.
Seit dem Jahr 2000 habe ich Multiple Sklerose, die definitive Diagnose wurde jedoch erst im Jahr 2004 gestellt. Nachdem ich einen körperlichen Zusammenbruch erlitten hatte, ging ich zunächst 2017 notgedrungen in die Rente und erholte mich 2 Jahre lang. Doch bald kam die Frage auf: Wie will ich künftig mein Leben gestalten? Immerhin konnte ich mir nur schwer vorstellen, mit Ende 40 bereits in Rente zu sein, mir hat mein Beruf ja immer sehr viel Spaß gemacht.
Da ich durch meinen beruflichen Hintergrund bereits langjährige Erfahrung als Coach und Wirtschaftsmediatorin gesammelt hatte, rief mich ein Kontakt an und erzählte mir von Akademikerinnen mit Behinderungen, die entweder ins Berufsleben zurückkehren oder darin Fuß fassen wollten. Sie fragte mich, ob ich nicht spontan Lust hätte, für ein Programm des Hildegardis-Vereins eine der Mentor*innen zu werden. Anfangs war ich überrascht, da ich bis dato nicht über diese Möglichkeit nachgedacht hatte. Doch als ich die jungen Frauen traf, wurde meine Begeisterung sofort geweckt. Mir wurde klar, dass es zahlreiche großartige Karriere- Entwicklungs– und Nachwuchsförderprogramme gibt. Doch es fehlt an Angeboten für Frauen mit Behinderungen, die eine Karriere anstreben. Dieses Thema scheint komplett übersehen zu werden. Frauen sind oft bereits froh, wenn sie überhaupt eine Stelle finden, die auf die eigene Beeinträchtigung Rücksicht nimmt. Dann auch noch über die nächsten Karriereschritte nachzudenken, scheint dabei gar nicht in die gängigen Vorstellungen zu passen. Aus diesem Grund entschied ich mich, mich künftig genau für dieses Thema einzusetzen. Ich konnte ja selbst auf eine Karriere zurückblicken, die sich seit 2010 auch aus dem Rollstuhl wunderbar ausüben ließ.
Durch diese erste Zusammenarbeit wurde mir klar, wie wichtig Sichtbarkeit ist, um ein anderes Bewusstsein für das Thema Behinderung am Arbeitsplatz zu schaffen und auch andere zu ermutigen, ihre Ziele zu erreichen. Wenn ich es mit meiner Arbeit schaffe, nur einige Menschen zu inspirieren, über eine Karriere nachzudenken, die sie zuvor nicht für möglich gehalten hätten, dann bin ich zufrieden.
Ich kann mich noch sehr deutlich an den Augenblick erinnern, als mir mitgeteilt wurde, dass ich zur Personalleiterin befördert werden sollte. In diesem Moment schossen mir unweigerlich viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf: Freude, aber auch die Frage, ob dies wirklich eine kluge Entscheidung war. Gerade einmal vier Wochen zuvor hatte ich endgültig die Diagnose Multiple Sklerose erhalten.
Dieser Punkt war entscheidend, da alle Ärzte betonten, wie kontraproduktiv Stress in meiner Situation sein könnte. Und just in dieser Phase befand ich mich auch inmitten eines gigantischen Projektes. Die Belastung war enorm, und es kam zusätzliche Verantwortung hinzu, denn nebenbei hatten wir Niederlassungen in Manchester, Taiwan, Shanghai und Brüssel in HR-Angelegenheiten zu unterstützen. Diese Konstellation schien angesichts meiner frischen Diagnose alles andere als passend. Trotz dieser Zweifel hatte ich das große Glück, einen wunderbaren Mann an meiner Seite zu wissen, der mich ermutigte, die Gelegenheit dennoch zu ergreifen und auf mich zu vertrauen.
Dennoch konnte ich diese unterschwellige Frage nicht verleugnen, ob ich das alles wirklich bewältigen konnte. Diese Gedanken blieben bis bis zur Unterstützung des Geschäftsführers. Er versicherte mir, hinter mir zu stehen, ungeachtet der Ereignisse. Niemals gab es die Frage, ob ich dazu in der Lage wäre. Die Gewissheit, dass mir vertraut wurde und meine Bemühungen unterstützt wurden, gab mir immense Stärke.
Ja, das finde ich schon. Diese Tatsache zeigt sich auch in den Zahlen, die belegen, dass Menschen mit Behinderungen dreimal länger brauchen, um im Berufsleben Fuß zu fassen. Der Weg zu einer erfolgreichen Karriere gestaltet sich weitaus komplizierter, da wir oft in eine Schublade gesteckt werden – als nicht mehr leistungsfähig oder ständig abwesend. Dieses Muster ist uns nur allzu bekannt. Viele Menschen erreichen zwar beeindruckende berufliche Erfolge, halten sich jedoch bedeckt und offenbaren ihre Behinderung zum Beispiel deshalb gar nicht. Es ist also nicht vollständig transparent, wie viele Menschen mit Behinderungen tatsächlich Karriere machen oder gemacht haben, da sie sich oftmals nicht in der Öffentlichkeit zeigen und höchstwahrscheinlich kaum darüber sprechen.
Wenn ich Menschen mit Behinderungen einen Rat geben könnte, dann wäre es, genauer hinzusehen und zu analysieren, was tatsächlich auf die Behinderung zurückzuführen ist.
In meinen Karriere-Coaching-Sitzungen gehen wir stets der Frage nach, inwiefern wir der Behinderung zu viel Raum geben. Ich fordere die Menschen auf, sich vorzustellen, was sie tun würden, wenn Geld keine Rolle spielt und die Behinderung keine Begrenzung darstellen würde. Was wäre ihr Traum? Wir prüfen dann, ob dieser Traum nicht doch machbar ist. Es geht darum, sich von dem Gedanken freizumachen, dass die Behinderung nur limitiert – dazu verdammt, lediglich die Krümel aufzusammeln. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, worin ich wirklich gut bin und welche Fähigkeiten wie zum Beispiel Lösungsorientiertheit ich aufgrund der Behinderung beispielsweise stärker trainiert habe. Anschließend kann dann geprüft werden, in welche Richtung es gehen könnte.
Es ist wichtig, nicht automatisch davon auszugehen, dass aufgrund der Behinderung bestimmte Positionen oder Aufgaben unerreichbar sind. Die Frage sollte sein: Wie frei ist mein Denken? Schließe ich aufgrund von Vorannahmen zu viel aus? Ist das wirklich nicht möglich? Natürlich gibt es Dinge, die aufgrund einer Behinderung nicht möglich sind, aber das betrifft uns alle, denke ich. Daher rate ich jedem, bewusst hinzuschauen und zu ergründen, wo wir uns von Gedanken blockieren lassen und welche Fähigkeiten wir besitzen, die für Arbeitgeber von Nutzen sein könnten. Niemand sollte den Fokus auf Defizite legen oder sich auf das beschränken, was er oder sie nicht kann.
Zum Beispiel bin ich aufgrund meiner Rollstuhlnutzung sehr gut darin, kreative Lösungen zu finden. Standardlösungen funktionieren oft nicht für mich, daher entwickle ich täglich kreative Ansätze. Diese Fähigkeit ist übertragbar – es geht darum, dies zu kommunizieren. Es ist entscheidend, nicht als defizitäre Bittsteller aufzutreten, sondern sich selbst mit den eigenen Stärken zu präsentieren.
Häufig beobachte ich, dass Unternehmen mit dem Thema Behinderung anfangs überfordert wirken und denken, es sei kompliziert. Sie fragen sich, welche Fördermittel es gibt und wie sie sich informieren sollen. Mein Rat lautet dann, tief durchzuatmen und zu überlegen, welche Art von Menschen mit Behinderungen überhaupt ins Unternehmen passen könnten. Wenn beispielsweise kein Aufzug vorhanden ist, sollte nicht sofort an Rollstuhlfahrer gedacht werden, aber es gibt vielleicht andere Gruppen, die in Frage kommen.
Die erste Frage sollte immer sein, was denkbar und pragmatisch machbar ist, anstatt sich unter Druck zu setzen, perfekt sein zu müssen, bevor überhaupt das erste Bewerbungsgespräch stattfindet.
Die wichtigste Sache ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, wie die Expertise dieser Person (gilt übrigens für alle) das Arbeitsumfeld ergänzt. Benötigt die Person Hilfsmittel? Oft denken Unternehmen gleich an umfassende Umbauten und intensive Unterstützung, aber das muss gar nicht der Fall sein. Es geht darum, loszulassen und die Expertise des Gegenübers zu nutzen. Dadurch wird alles viel einfacher. Und wenn doch Herausforderungen auftauchen, dann können gemeinsam Lösungen gefunden werden und das Arbeitsumfeld so gestaltet werden, dass es passt.
Wir müssen vor allem die Barrieren in unseren Köpfen überwinden, die uns daran hindern, auf bestimmte Menschen zuzugehen und sie zu akzeptieren. Wir dürfen nicht denken: „Ich habe schon so viel zu tun, das brauche ich jetzt nicht auch noch an der Backe.“ Denn oft ist die Vorstellung, dass es zusätzliche Arbeit bedeutet, das eigentliche Hindernis.
Was mich überrascht hat, als ich wieder in die Arbeitswelt zurückgekehrt bin, war, dass ich zuerst das Gefühl hatte, eine Gebrauchsanweisung abgeben zu müssen – eine Art Anleitung, wie man mit mir umgehen kann. Es geht einfach um Dialog, nicht darum, schon immer vorab zu wissen, wie das beste Verhalten sein könnte oder was gesagt werden darf und was nicht. Stattdessen geht es darum, den Menschen anzuerkennen und auszusprechen, was wir fühlen. Einfach in Kontakt zu treten. Das hat nichts mit einer Behinderung zu tun, sondern damit, zu akzeptieren, dass jeder von uns mit schwierigen Situationen konfrontiert ist, die eben nicht vor der Bürotür haltmachen. Manchmal sind sie vielleicht sichtbar im Arbeitsalltag. Es ist erlaubt, das anzusprechen. Wir dürfen sagen: „Entschuldigung, mein Kind hat die ganze Nacht geweint, ich bin heute wirklich erschöpft.“ Dann müssen die anderen nicht gleich denken, dass sie irgendwas falsch gemacht haben. Sonst entstehen nur unnötige Spekulationen.
Inklusion wird häufig als etwas Fremdes, Trennendes wahrgenommen, aber eigentlich geht es ja um etwas Ganzheitliches. Es geht darum, miteinander zu sprechen. Ich betone immer wieder, dass meine Klienten mich alles fragen können, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine Antwort habe, ist ziemlich hoch. Aber es geht nicht darum, sich Gedanken zu machen wie „Oh je, wie soll ich mich jetzt verhalten?“ oder „Hat diese Person überhaupt eine bestimmte Intelligenz?“ Es geht darum, zu erkennen, dass wir alle Menschen sind. Natürlich kann mein Gegenüber auch zu mir sagen: „Ich möchte jetzt nicht mit dir sprechen.“ Das ist völlig in Ordnung. Es geht um den Abbau von Ängsten und Vorurteilen. Hätte ich zum Beispiel schon früher Menschen im Rollstuhl kennengelernt, wäre meine Furcht vor dem Rollstuhl vielleicht nicht so groß gewesen.
Die Fragen, ob ich überhaupt noch arbeiten gehen kann, ob ich überhaupt noch leben kann, und ob ich überhaupt noch leben will, waren die zentralen Themen. Als der Rollstuhl ins Spiel kam, fühlte sich das Leben erstmal wie beendet an. Die Vorstellung, wieder arbeiten zu gehen, schien unwahrscheinlich. Ich konnte mir ein Leben in dieser Situation kaum vorstellen.
Ich empfinde die Diskussion in Deutschland manchmal als recht ermüdend. Anfangs mochte ich das Wort „Behinderung“ überhaupt nicht, es ließ mich stets unwohl fühlen. Das war auch der Grund, warum ich meine Firma „HandicapUnlimited“ genannt habe. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, weil ich erkannt habe, dass „Handicap“ nicht das ideale Wort ist, weil es den Aspekt, dass das Umfeld behindert, nicht berücksichtigt. Was Österreich umsetzt, indem sie von „Menschen mit begünstigtem Status“ sprechen, finde ich ziemlich genial. Es wäre schön und das ist wirklich nur meine ganz persönliche Meinung, nicht „Menschen mit Behinderung“ oder gar „Schwerbehinderten-Ausweis“ zu verwenden, da diese Begriffe bei mir persönlich immer noch eine negative Energie hervorrufen, die belastet.