#ExpertVoices: Julia Scheerer (sie/ihr)
„Menschen, die über den Erfolg einer Unternehmung anderer Menschen (mit-)entscheiden, möchte ich dazu auffordern sich ihre eigenen Vorurteile bewusst zu machen und reflektiert bessere Entscheidungen zu treffen.“
Wie kann die Gründungslandschaft in Deutschland inklusiver werden? Damit beschäftigt sich Julia Scheerer von der Bertelsmann Stiftung
Du arbeitest seit 12 Jahren bei der Bertelsmann Stiftung - welche Themen haben dich in dieser Zeit am meisten bewegt?
Die Arbeit in der Bertelsmann Stiftung ist enorm vielfältig. In den vergangenen Jahren habe ich an zahlreichen spannenden Initiativen gearbeitet, da fällt es schwer eine Auswahl zu treffen oder zu priorisieren. In meinem aktuellen Kontext ist es besonders spannend gewonnene Erkenntnisse in Handlungsempfehlungen zu gießen oder zu verfolgen, wie sie in die Praxis umgesetzt werden. Beispielsweise wissen wir, dass die zeitgleiche Gründung von Unternehmen und Familie schwer vereinbar ist. Reformvorschläge, wie die finanzielle Situation von Paaren während der Elternzeit verbessert werden kann, liegen auf dem Tisch. Nur: Wer fasst diese Vorschläge jetzt wie an und sorgt dafür, dass bessere Rahmenbedingungen entstehen, um Gründen insbesondere für junge Frauen attraktiver zu machen?
Das aktuelle übergreifende Projekt heißt "Innovations- und Gründungsdynamik stärken” - kannst du uns etwas über die Ziele des Projekts erzählen?
Unsere Wettbewerbsfähigkeit, unser Wohlstand und unser gesellschaftlicher Fortschritt basieren maßgeblich auf der Innovations- und Gründungsdynamik. In der Bertelsmann Stiftung erarbeiten wir forschungsbasierte Konzepte und handlungsorientierte Lösungen, um Innovation und Gründung zu fördern. In Deutschland können wir noch deutlich zulegen – in Bezug auf die Anzahl der Gründungen, aber auch, was die Vielfalt der Gründer:innen angeht. Wer traut sich zu gründen, wer nicht und warum? Wir wollen Antworten auf die Frage bieten, wie die Gründungslandschaft in Deutschland inklusiver werden kann.
Welchen Zusammenhang siehst du zwischen Innovation und der Förderung einer inklusiven Gründungslandschaft?
Wir alle wissen: Diversere Teams sind resilienter und innovativer. Innovative Geschäftsideen entstehen nicht dort, wo die Masse bereits ist, sondern an den Rändern, häufig auch durch diejenigen, die marginalisiert werden.
Was sind die größten Herausforderungen und Barrieren auf dem Weg zu einer inklusiveren Gründungslandschaft?
Wenn man einer Betrachtung nach Gruppen folgen möchte, die Menschen anhand von Diversity-Merkmalen ausgrenzt, dann lassen sich die Barrieren immer in folgenden Bereichen festmachen: Zugang zu Netzwerken, Erschließung von Finanzierungsquellen, Identifizierung und Aufbau von Gründungswissen. Eine immense Herausforderung wird es sein, Menschen, die über den Gründungserfolg mitentscheiden, für ihre eigenen Vorannahmen zu sensibilisieren, da sie diese stark vorurteilsgeleitete Entscheidungen treffen lässt. Ein Kriterium, das oft genannt wird ist zum Beispiel die Unternehmerpersönlichkeit, die stimmen muss, um erfolgreich zu gründen. Was diese Persönlichkeit auszeichnet, lässt sich jedoch nur wirklich schwer objektiv sichtbar machen.
Dein aktueller Arbeitsschwerpunkt im Projekt ist das Thema soziale Herkunft und Gründung. Welche ersten Erkenntnisse konntest du bereits gewinnen und welche Herausforderungen siehst du in diesem Bereich?
Es gibt in Deutschland zu wenig Gründerinnen, die nicht eine gründungsnahe Herkunft haben. Die Gründerinnen, die ohne diese Herkunft gründen, sind in keiner Hinsicht weniger ambitioniert, oft spricht man auch davon, dass diese Gründer genauso hungrig sind. Sie realisieren ihre Vorhaben aber unter schwierigeren Wachstumsbedingungen.
Wenn du drei Lösungsansätze nennen könntest, die die größte Wirkung auf dem Weg zu einer inklusiveren Gründungslandschaft hätten, welche wären das und warum?
Menschen, die über den Erfolg einer Unternehmung anderer Menschen (mit-)entscheiden, möchte ich dazu auffordern sich ihre eigenen Vorurteile bewusst zu machen und reflektiert bessere Entscheidungen zu treffen. Vorurteile sind wichtig, sie helfen uns zu strukturieren, gleichzeitig ist diese Strukturierung hinderlich, denn sie blendet aus und leitet uns zu falschen oder verkürzten Urteilen.
Insgesamt wäre eine Aufwertung des Gründens an sich in Deutschland hilfreich. Es hilft wenig, dass Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die Rahmenbedingungen für angestelltes Arbeiten kontinuierlich und so umfangreich priorisieren.
Last but not least: Inklusiv ist unsere Gründungslandschaft dann, wenn kein Programm mehr einzelne Gruppen identifizieren, fördern und ihnen einen Safe Space zur Entwicklung bieten muss. Daran müssen wir arbeiten.