#DiverseVoices: Kerstin Michels (sie/ihr)

Es liest sich immer so einfach, dass man offen mit seiner Behinderung umgehen soll und diese akzeptieren soll. Aber es ist eben auch schwer und man sollte hier auch nicht zu selbstkritisch mit sich sein.

Was sind die drei wichtigsten Dinge, die wir über dich wissen sollten? 

Wenn man mich und meine Beweggründe verstehen möchte, mit mir arbeitet oder befreundet ist, sind das wohl:

  1. Dass ich Transparenz unglaublich wichtig finde und schätze.
  2. Mir sind Unabhängigkeit und Flexibilität wichtig.
  3. Ich wirke manchmal abwesend und distanziert, bin aber genau das Gegenteil davon.
Seit einiger Zeit sprichst du offen über deine unsichtbare Behinderung – hat dich das Überwindung gekostet?

Ja, es hat mich einige Überwindungen gekostet und ich habe lange Zeit gebraucht, um überhaupt zu akzeptieren, dass ich eine Behinderung habe – obwohl ich bereits von Geburt an auf dem linken Ohr taub bin. Bis zum Ende meiner Zwanziger habe ich das aber eher als FunFact abgetan.
Dann hatte ich irgendwann auch rechts Hörschwankungen und damit setzte der dauerhaft fortschreitende Hörverlust ein. Ich wollte zunächst nicht akzeptieren, dass ich von nun an mit dieser Beeinträchtigung würde leben müssen.
Ich habe alles Mögliche versucht, damit die Hörschwankungen nicht wieder kommen und mein Hörvermögen zu behalten: Verschiedene Ernährungsformen, Osteopathie, Akupunktur, Kortison, weniger Arbeiten und Stress etc. Alles mit dem Gedanken, dass ich sonst nicht leistungsfähig bin und ich mit einem eingeschränkten Hörvermögen meinen Beruf nicht mehr würde nachgehen können.

Wie hast du es dennoch geschafft?

Heute weiß ich, dass die mangelnde Akzeptanz, dass ich eine Hörbehinderung habe, mich mehr gestresst hat alles andere. Erst als ich angefangen habe meine Behinderung zu akzeptieren – ich habe zum Beispiel sehr lange Zeit kein Hörgerät getragen, obwohl ich es längst gebraucht hätte – ging es mir mental besser, der Stress hat sich gelöst und ich war auch im Beruf wieder leistungsfähiger.
Sehr wichtig war vor allem aber auch die Erkenntnis, dass ich offen über meine Höreinschränkung sprechen muss. Ich habe das oft unter den Tisch fallen lassen, dann aber zum Beispiel auch nicht nachgefragt, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich wollte niemanden mit meinen Nachfragen nerven oder als schwierig im Umgang wahrgenommen werden. Mein Umfeld hat meist sehr positiv reagiert, wenn ich darauf hingewiesen habe, dass ich eine Hörbehinderung habe, hat Rücksicht genommen und war überhaupt nicht genervt davon, Dinge zu wiederholen. Im Gegenteil – mehr genervt waren sie wahrscheinlich, als ich vorher immer freundlich genickt habe, sie aber eigentlich nicht wirklich verstanden habe.

Geholfen, dazu zu stehen, haben mir vor allem die Menschen in meinem Umfeld. Mein Freundeskreis und die Familie. Vor allem aber auch mein heutiger Co-Founder Björn Wind. Björn hat mich bei unserem alten Arbeitgeber, wo er CEO und ich Director of Business Development war, dazu ermutigt eine Kur zu beantragen, er hat mir Home-Office angeboten, mit dem Gedanken, dass es ein besseres Arbeitsumfeld für mich sein kann – und vor allem hat er mir immer die Sicherheit gegeben, dass ich eine Position und Rolle in dieser Firma für mich gibt, egal wie sich mein Hörvermögen weiter entwickelt.

Welchen Herausforderungen bist du auf deinem beruflichen Weg in Zusammenhang mit deiner Behinderung begegnet und wie bist du damit umgegangen?

In den vergangen sechs Jahren gab es sicherlich einige Herausforderungen. Die erste und wichtigste für mich war, meine Behinderung zu akzeptieren. Dann ist mir aber bewusst geworden, dass ich meine Höreinschränkung nicht nur mit meinem engen Team, sondern wirklich mit der ganzen Firma teilen muss.
Es gab Mitarbeitende, die mich als Gründerin als unnahbar und distanziert wahrgenommen haben. Vielleicht sogar als arrogant und desinteressiert an ihnen und ihren Aufgabenbereichen. Ein No-Go als Gründerin und Geschäftsführerin, gerade auch in Bezug auf eine empathische Unternehmenskultur, die mir besonders am Herzen liegt. Der Grund lag jedoch einfach darin, weil ich oft nicht gehört habe, wenn ich von der Seite gegrüßt worden bin. Ich nehme Dinge um mich herum schlichtweg weniger wahr und ziehe mich an sehr schlechten Tagen durchaus auch mal zurück. Es fällt mir auch schwerer, mich in großen Gesprächsrunden bei Team-Events einzubringen.

Dabei bin ich eigentlich das genaue Gegenteil und finde es als Gründerin und Geschäftsführerin unglaublich wichtig, nicht nur den Arbeitsstand zu Projekten und KPIs zu kennen, sondern auch das Team und wie es den einzelnen Personen geht.

Jetzt mache ich mit allen neuen Mitarbeitenden ein persönliches Onboarding und weise direkt auf meine Behinderung hin. Ich ermutige sie dazu mich anzutippen, wenn ich sie nicht gehört habe und bitte von vornherein um Verständnis, dass es vielleicht auch mal Tage gibt, an denen ich mich mehr zurückziehe. Das trägt unglaublich viel dazu bei, dass es nicht zu Missverständnissen kommt. Gleichzeitig schaffe ich damit aber auch eine psychologische Sicherheit, denn auch unsere Mitarbeitenden sollen ihre Bedürfnisse offen und transparent kommunizieren und vermeintliche Schwächen und Einschränkungen ansprechen können. Nur so lässt sich ein ideales Set-up erreichen, in dem alle ihre Stärken ausspielen können.

Gibt es eine besondere Botschaft aus deiner Erfahrung, die du anderen vermitteln möchtest?

Ich hatte ganz lange Zeit das Gefühl, ich darf nicht traurig über meine Hörbehinderung sein. Im Grunde geht es mir ja nicht schlecht und es gibt Menschen, die tagtäglich mit größeren Herausforderungen leben müssen. Das ist falsch gedacht. Heute heule ich auch einfach mal, wenn mir alles zu viel wird und lasse das auch bewusst zu. Mir hat das Zulassen dieser Emotionen auch unglaublich dabei geholfen, das Ganze zu akzeptieren. Die Momente, in denen ich wirklich traurig darüber bin, sind sehr selten geworden. Gleichzeitig finde ich es wichtig, auch diesen Teil zu erzählen. Es liest sich immer so einfach, dass man offen mit seiner Behinderung umgehen soll und diese akzeptieren soll. Aber es ist eben auch schwer und man sollte hier auch nicht zu selbstkritisch mit sich sein.

Was hat dir besonders geholfen?

Die Empathie meines beruflichen und privaten Umfeldes und meine eigene Akzeptanz. Beides bedingt sich jedoch auch gegenseitig. Ich glaube, Inklusion fängt zum Teil auch bei einem selber an. Auf der einen Seite ist jeder selber dafür verantwortlich, seine Bedürfnisse zu kommunizieren und sich sichtbar zu machen. Auf der anderen Seite kann Inklusion aber auch nur durch das entsprechende Umfeld gelingen, denn die eigenen Bedürfnisse kommuniziert nur, wer auch die Sicherheit verspürt, dass keine Konsequenzen folgen, wenn er*sie sich öffnet.

Wie hat sich deine Erfahrung auf deinen Führungsstil ausgewirkt?

Empathie ist eine ganz entscheidende Führungseigenschaft. Ich bin unglaublich dankbar, dass Björn mir damals so viel Empathie entgegengebracht hat. Ich sage heute immer, er hätte eine Pommesbude aufmachen können und ich wäre wahrscheinlich auch dort eingestiegen. Nun haben wir voiio gegründet und bieten Unternehmen eine Lösung an, um ihre Mitarbeitenden in jeder Lebenslage und -phase unterstützen zu können. Das spiegelt unsere Überzeugung wieder, dass es zuallererst um den Menschen geht. Viele Unternehmen haben das leider noch nicht erkannt.

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