#DiverseVoices: Lena Helmling (sie/ihr)

Vielfaltsbewusste und diskriminierungskritische Kinderbücher können also einen proaktiven Beitrag zu einer anti diskriminierenden und damit vielfaltsbewussten und inklusiven pädagogischen Praxis leisten, wovon letztlich alle Kinder profitieren.

Lena Helmling

Lena Helmling ist Pädagogin und Bildungswissenschaftlerin. Seit mehr als 10 Jahren widmet sie ihre berufliche Laufbahn der Pädagogik. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Anti-Diskriminierung, Sprache & Kommunikation, sowie Entwicklungspsychologie.

Welche Rolle spielen Kinderbücher deiner Meinung nach in der frühkindlichen Entwicklung, insbesondere im Kita-Alter?

Die meisten Kinder lieben es, in Geschichten ein- und abzutauchen. Kinderbücher ermöglichen  im besten Fall Einblicke in andere Welten und greifen Themen der Kinder auf, sie beflügeln  Fantasie, vermitteln Wissen und unterstützen die Sprachentwicklung. Zudem kann vor allem das  sogenannte Dialogische Vorlesen, bei dem, im Gegensatz zum klassischen Vorlesen, das Gespräch und die Interaktion mit dem Kind im Vordergrund steht, für stärkende Beziehungsmomente zwischen Erwachsenen und Kindern sorgen, den Alltag entschleunigen und das Kind, im Sinne des Philosophierens mit Kindern, zum Selbstdenken anregen. Außerdem kommt es im Kita-Alltag häufig vor, dass Kinderbücher gemeinsam von mehreren Kindern angeschaut werden, die dann darüber ins Gespräch kommen. Hier haben die Kinder dann die Möglichkeit, Gesprächskulturen, wie z.B. das Zuhören und Ausreden lassen, einzuüben, was einen wichtigen Lernprozess im Rahmen der sozial-emotionalen Entwicklung darstellt. Das (gemeinsame) Anschauen eines Bilderbuchs oder das Vorlesen einer Geschichte stellt somit auf  unterschiedlichen Ebenen eine ungeheuer wertvolle Unterstützung für die kindliche Entwicklung dar.

Warum ist es deiner Ansicht nach wichtig, dass Kinderbücher Diversität abbilden und wie kann dies das Verständnis und die Akzeptanz von Vielfalt bei Kindern fördern?

Kinder sind vielfältig – und das trifft auch auf ihre Familien und ihre Art zu leben zu. Kinderbücher sollten zum einen die Möglichkeit geben, Kindern Einblicke in und Wissen über neue Lebenswelten zu geben. Dies kann sowohl der Perspektiverweiterung dienen als auch eine aufklärerische Funktion übernehmen. Auf der anderen Seite sollte in Kinderbüchern die Lebensrealität der Kinder und sie selbst mit all ihrer Vielfältigkeit zu finden sein. So erfahren sie Anerkennung für sich und ihre Bezugsgruppen und erhalten die Message „Ich bin richtig, ich bin  wichtig!“. Doch in Bücherbeständen vieler Kitas finden sich nicht alle Kinder wieder. Und einige Kinderbücher beinhalten versteckte oder offene Vorurteile, stigmatisieren und diskriminieren, was die Machtungleichheiten in unserer Gesellschaft widerspiegelt. Vielfaltsbewusste und diskriminierungskritische Kinderbücher können also einen proaktiven Beitrag zu einer anti diskriminierenden und damit vielfaltsbewussten und inklusiven pädagogischen Praxis leisten, wovon letztlich alle Kinder profitieren. Denn auch die Kinder, die sich häufig mit den in den Büchern abgebildeten Protagonist*innen positiv identifizieren können, nutzen Bücher als Quelle für ihr Welt- und Menschenbild. Dies kann Dominanzdenken fördern und bestehende Machtverhältnisse reproduzieren. Stattdessen können Kinderbücher mit vielfältigen Personen und diskriminierungssensiblen Geschichten zu einem wertschätzenden Umgang zwischen Menschen beitragen.

Kannst du aus deiner beruflichen Praxis Beispiele nennen, wie divers gestaltete Kinderbücher positive Auswirkungen auf Kinder und das pädagogische Umfeld hatten?

Der eigene Bücherbestand ist dann vielfältig, wenn alle Aspekte von Verschiedenheit und alle  Identitätsmerkmale, anhand derer Menschen Abwertung oder Benachteiligung erleben können, berücksichtigt werden. Somit sollten auch mehrsprachige Kinderbücher dort zu finden sein.Ich war selbst als zusätzliche Fachkraft in einer Sprach-Kita tätig. Dort haben wir mit einer App  gearbeitet, die eine Vielzahl an mehrsprachigen Kinderbüchern – mit deutschem „Untertitel“ – bereitstellt. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen einige Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kamen, wunderbare Momente mit den Fachkräften erlebten, wenn sie gemeinsam ein Buch in der Sprache angeschaut haben, die die Kinder sprachen und verstanden.

Diese Momente schaffen ein Gefühl des Gesehenwerdens. Die Kinder erleben, dass wichtige Teile ihrer Identität, in diesem Fall, „ihre“ Sprache, im Kita-Alltag vorkommen und willkommen sind. Solche Momente können sicherheitsspendend sein und zu einem großen Wohlbefinden beitragen und nur dort wo sich Kinder sicher, wohl und willkommen fühlen, können sie sich gesund entwickeln.

Welche Herausforderungen siehst du in der Umsetzung von diversitätsbewusster Literatur im Kita-Alltag und wie können diese überwunden werden?

Ich könnte mir vorstellen, dass einige Kitas es aus zeitlichen Gründen als herausfordernd empfinden, ihren Bücherbestand komplett zu überprüfen und neue Bücher zu bestellen. Wenn man sich hier allerdings unperfektionistisch an einige wenige Kriterien hält und sich Zeit gibt, ist dies eine bewältigbare Aufgabe. Zudem kann bei der Neuanschaffung auf einige  Kinderbuchlisten, die es bereits fertig zum Download im Internet gibt, zurückgegriffen werden. An dieser Stelle möchte ich auch unbedingt die Kinderbücher-Mediathek der Fachstelle  Kinderwelten empfehlen. Auch MoreDiversity arbeitet ja aktuell an einer solche Liste und einem dazugehörigen Workshop-Konzept für Kitas.

In meinen Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte höre ich ebenso manchmal die Befürchtung, dass ein diverser Buchbestand bei einigen Eltern kein Verständnis finden würde. Hier ist es wichtig, die Eltern von Anfang an darüber zu informieren, welchen Chance ein inklusiver pädagogischer Ansatz für alle Kinder bietet und dass das Recht auf Schutz vor Diskriminierung ein Kinderrecht darstellt, das es unbedingt zu achten gilt. 

Auch pädagogischen Fachkräften fällt es manchmal schwer, sich von ihren eigenen Lieblingsbüchern zu trennen, auch wenn dies aus diversitätsbewusster Perspektive notwendig wäre. Je nach Buch, ist eine Trennung, aus meiner Sicht, nicht immer zwingend notwendig. Eine kritische Auseinandersetzung gemeinsam mit den Kindern bietet auch eine gute Möglichkeit, um über Diskriminierung und Ungerechtigkeiten ins Gespräch zu kommen.

Welche Kriterien sollten pädagogische Fachkräfte bei der Auswahl von Kinderbüchern berücksichtigen, um eine vorurteilsbewusste und inklusive Bildung zu unterstützen?

Auch wenn viele Bücherbestände noch nicht sehr vielfältig sind, gibt es sie: Die Kinderbücher, die neue Perspektiven eröffnen, vorurteilsbewusst und von Vielfalt geprägt sind und dabei die  Lebenswelten und Themen der Kinder aufgreifen. Es lohnt sich also den bestehenden Buchbestand in der eigenen Einrichtung einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen und zu fragen: Welche Bücher können wir nutzen, um bestimmte Themen aufzugreifen? Welche Kinder finden sich mit ihren Sprachen, Festen, Familienformen, Interessen oder Äußerlichkeiten wieder? Und noch viel wichtiger: Welche nicht? Welche Bücher müssen vielleicht sogar aussortiert werden oder zumindest kritisch mit den Kindern besprochen werden, weil sie diskriminierende Bilder transportieren? Konkreter kann man hier noch fragen: Welche Personen haben (k)eine aktive Rolle in der Geschichte? Wer muss seinen Wert beweisen, um „dazuzugehören“? 

Kurz gesagt, sollte sich jedes Kind in den Büchern wiederfinden können und gleichzeitig angeregt werden, den eigenen Horizont zu erweitern. Die Bücher sollten Kindern helfen, ihren Gefühlswortschatz zu erweitern, keine diskriminierenden Inhalte enthalten, anregen, kritisch über Diskriminierung nachzudenken und Mut machen, sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Selbstverständlich muss nicht jedes Buch jedes Kriterium erfüllen, aber in ihrer Gesamtheit sollten sie es tun. Und ganz wichtig: Kinderbücher sollten auch einfach mal nur Quatsch Themen behandeln, die für lustige Momente sorgen – natürlich ohne zu diskriminieren! Hier bietet sich z.B. das Buch „Alle haben ein Po“ von Anna Fiske, das vielen Kindern große Freude bereitet, sehr gut an.  

Wie glaubst du, dass die Beschäftigung mit diversitätsbewussten Kinderbüchern das langfristige Denken und Verhalten von Kindern beeinflussen kann, besonders im Hinblick auf ihre spätere soziale und berufliche Interaktion?

Es ist kein Zufall, wer in Kinderbüchern (wie) zu finden ist und wer nicht. Vielmehr ist es Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Kinder begegnen diesen Verhältnissen nicht nur in Büchern, sondern tagtäglich in vielfältiger Form. Manche Kinder gehören z.B. aufgrund ihrer Hautfarbe eher zur Dominanzgesellschaft als andere und das ist auch durch vorhandene – oder nicht vorhandene – Vielfalt bei Protagonist*innen in Kinderbüchern der Fall. Umso wichtiger ist es, die Kinderbuchauswahl zum Empowerment für Kinder, die aufgrund bestimmter Identitätsmerkmalen und/oder Zuschreibungen weniger sichtbar sind oder gar diskriminiert werden, zu nutzen.

Zudem profitieren alle Kinder von einer vorurteilsbewussten und diskriminierungssensiblen Auswahl von Kinderbüchern, da in ihnen ein wertschätzender Umgang mit Vielfalt erlebbar gemacht werden kann, was letztlich zu einem respektvollen Miteinander bis hinein ins Erwachsenenleben spürbar sein kann.

Und zum Schluss: Hast du ein Lieblings-Kinderbuch?

Auf diese Frage mit nur einem Buch zu antworten fällt mir schwer. Ich möchte zunächst ein Kinderbuch aus meiner Kindheit nennen, das ich aus heutiger Sicht als empowernd bezeichnen  kann. Es heißt „Lena hat nur Fußball im Kopf“ von Kirsten Boie und handelt von einem Mädchen, das, wie der Titel vermuten lässt, leidenschaftlich gerne Fußball spielt. Da ich selbst ein  fußballspielendes Mädchen war und das in keinem mir bekannten Kinderbuch vorkam, hat es mich sehr bestärkt, mich mit meiner Leidenschaft dort wieder zu finden; Zudem, aber das ist mir erst klar geworden, als ich das Buch nochmals als erwachsene Person gelesen habe, kann der Inhalt des Buches sehr gut genutzt werden, um mit Kindern (eher im Grundschulalter) über  Adultismus und Leistungsdruck zu sprechen.  

Ein eher aktuelles Buch, das ich unbedingt auch empfehlen möchte, ist „Mina entdeckt eine neue Welt“ von Sandra Niebuhr Siebert und Lars Baus. Es erzählt die Geschichte vom Ankommen eines Kindes namens Mina im Kindergarten. Da Mina zu Beginn kein Deutsch spricht, gibt das Buch, aus meiner Sicht, großartige Einblicke in die Perspektive und das Gefühlsleben eines Kindes, das in der Kita zunächst nicht verstanden wird. Es wird eindrücklich und feinfühlig beschrieben, wie sich für Mina zunächst alles fremd und grau anfühlt und wie das Leben im Kindergarten für sie, nach einer Zeit, indem sie durch das einfühlsame Verhalten der pädagogischen Fachkräfte nach und nach Vertrauen aufbauen konnte, wieder warm und bunt wird.

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