Diverse Kinderbücher

Indigene sind keine Fantasyfiguren. Im Interview erklärt Kinderbuchexpertin Gabriele Koné, warum alle Kinder davon profitieren, wenn Kinderbücher diverser werden.

Gabriele Koné leitet an der die Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz den Bereich „Entwicklung vorurteilsbewusster Medien und Materialien“. Die Fachstelle unterstützt die vorurteilsbewusste Erziehung in Schulen und Kitas mit Fort- und Weiterbildungen, Veranstaltungen, Materialien und Publikationen, etwa Empfehlungslisten

Warum ist eine diskriminierungssensible Pädagogik so wichtig?

Weil ansonsten Kinderrechte verletzt werden. Kinder haben ein Recht auf Schutz vor Diskriminierung. Und Kinder sind eine sehr, sehr verletzliche Gruppe. Leider werden auch heute noch viele Kinder in pädagogischen Settings ausgegrenzt oder beschämt. Das ist nicht immer absichtsvoll. Nicht jede Ausgrenzung ist gewollt, aber sie passiert – weil es in unserer Gesellschaft eine Struktur gibt von Ausgrenzung, von Diskriminierung. Und die zieht sich durch alle Institutionen, auch durch pädagogische Einrichtungen. Es gibt immer diese Vorstellung: Jemand, der andere rassistisch diskriminiert, hat selbst ein rassistisches Weltbild. Das stimmt aber nicht, viele Diskriminierungen geschehen ohne böse Absicht. Aber auch wenn Ihnen jemand aus Versehen auf den Fuß tritt, tut es weh – dieses Beispiel liest man oft in Büchern zu Anti-Diskriminierung.

Haben Sie ein Beispiel für eine solche nicht-absichtsvolle Diskriminierung?

Wenn es in einer Kita zum Beispiel ausschließlich Kinderbücher mit heterosexuellen Familien, also Vater, Mutter, Kind, gibt. Kinder haben das Recht auf den Zugang zu Bildung. Und wenn sich Kinder in den vorhandenen Bildungsmaterialien nicht wiederfinden, dann ist es eine Zugangsbarriere.

Was macht es mit Kindern, wenn sie sich in Büchern nicht wiederfinden?

Alle Kinder müssen das Gefühl haben: Ich gehöre dazu. Es gibt immer noch eine erhöhte Suizidrate unter LGBTQ+ Jugendlichen. Das könnte verhindert werden, wenn diese Jugendlichen von klein auf das Gefühl vermittelt bekommen hätten, genau richtig zu sein so wie sie sind. Doch auch Kinder der Mehrheitsgesellschaft profitieren von diversen Kinderbüchern: Denn so verstehen sie, was es noch alles auf der Welt gibt. Nicht jede Lebensumgebung von jedem Menschen ist immer vielfältig. Von daher ist es wichtig, dass Kinder in Kontakt mit der tatsächlichen gesellschaftlichen Vielfalt kommen. Die Botschaft muss ein: Menschen können so sein, oder auch so, und das alles ist okay.

Was machen die klassischen Kinderbücher denn falsch?

Es gibt Kinderbücher, die diskriminierende Botschaften enthalten, wie zum Beispiel Pipo Langstrumpf, Jim Knopf, die Karl-May Bände etc, und die in pädagogischen Einrichtungen nichts zu suchen haben. Darüber hinaus gibt es eine Einseitigkeit in Bezug auf die Lebenswirklichkeiten von Kindern. Viele Kinderbücher machen gar nicht unbedingt etwas falsch, es ist nur so, dass in der Summe einfach nach wie vor viel zu wenig Vielfalt vorkommt. Ein Beispiel: Ein Viertel der Kinder in Deutschland lebt in Armut. Kinderbücher, die Klassismus behandeln, gibt es aber fast keine. Die klassische Kinderbuchfamilie besteht immer noch aus  einer gut situierten weißen Mittelschichtsfailie mit Mutter, Vater und Kind(ern). Selbstverständlich können nicht alle Diversitätskriterien in einem Kinderbuch vorkommen, aber Kindergärten und Schulen haben einen Bildungsauftrag, sie sind der Antidiskriminierung verpflichtet und sollten daher zusehen, dass die Bücher, die vorgelesen werden, eine gewisse Vielfalt abdecken. Und bestimmte Kinderbücher, die diskriminierende Äußerungen enthalten, haben dort nichts verloren.

Was ist mit den Eltern – haben die nicht auch einen Bildungsauftrag?

Eltern ist es natürlich freigestellt, was sie lesen und was nicht. Trotzdem sehe ich auch die Eltern in der Verantwortung: Zum einen sollten sie ihren Kindern natürlich keine diskriminierenden Vorstellungen weitergeben. Zum anderen geht es aber auch ganz schlicht darum, dass sie ihrem Kind reale Informationen über die Welt zu bieten. Winnetou zum Beispiel hat nichts mit Authentizität zu tun, da wird eine völlig falsche Vorstellung der indigenen Bevölkerungsgruppen in den USA transportiert. Natürlich hat das auch was mit Bildung zu tun: Ich möchte meinem Kind, meinem Enkel, meiner Nichte oder meinem Bezugskind doch einen realen Blick in die Welt ermöglichen. Und Indigene sind ja keine Fantasy-Figuren wie Meerjungfrauen oder Feen. Hier werden reale Menschen völlig falsch dargestellt.

Was macht ein gutes diverses Kinderbuch aus?

Da gibt es verschiedene Aspekte. Zunächst einmal gelten die Kriterien, die für alle Kinderbücher gelten: Die Sprache muss wertschätzend sein, die Abbildungen mit dem Text übereinstimmen, Inhalt, Sprache und Bilder müssen altersgerecht sein. Aus diskriminierungssensibler Sicht ist außerdem wichtig: Wer ist die Hauptperson? Beziehungsweise: Wer spielt eine aktive Rolle in der Geschichte? Häufig taucht zwar zum Beispiel eine Person mit einer sichtbaren Behinderung auf – klassischerweise ein Kind mit Rollstuhl – aber nur in einer Nebenrolle. Überspitzt gesagt: Es ist es egal, ob das Kind da ist oder nicht, es hat keine aktive Rolle. Am besten wird Diversität über eine beiläufige Selbstverständlichkeit erzählt: Wenn ein Kind in einem Buch eine Behinderung hat, etwa einen Rollstuhl benutzt oder Trisomie 21 hat, ist das kein „Problem“, das heißt, es sollte keine Geschichte über ein „armes“ Kind mit Behinderung sein, sondern über ein Kind, das Abenteuer erlebt wie jedes andere Kind auch. Daher ist auch wichtig, dass es mehr Own-Voices-Bücher gibt, Bücher also, die von Menschen geschrieben sind, die die Erfahrungswelt ihrer Charaktere teilen – also zum Beispiel Autor*innen und Illustrator*innen mit Behinderung.

Da sind wir schon bei den Fallstricken: Was kann ein gutmeinendes, vermeintlich diverses Kinderbuch denn falsch machen?

Ein klassischer Plot ist: Es gibt eine Kindergruppe und ein Kind kommt dazu. Dieses Kind ist neu oder unterscheidet sich in einem Aspekt von den anderen Kindern, ist zugewandert oder hat eine sichtbare Behinderung. Dann gibt es eine Art von Krise und das ausgegrenzte Kind hat die rettende Idee. Das ist natürlich fatal, denn es wird suggeriert, dass dieses Kind etwas Besonderes leisten muss. Das heißt, wäre das Kind eine durchschnittliche Person, würde es nie dazugehören. So lernen die Kinder, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehören, dass sie Zugehörigkeit nur über besondere Leistung erhalten und Kinder, die diskriminieren, lernen nicht, dass an ihrem Verhalten etwas falsch ist.

Haben Sie noch einen Tipp für Eltern oder Erzieher*innen?
Kritisches Vorlesen, das klappt bereits mit 3-4-jährigen Kindern. Wenn in einem Bilderbuch alle Kinder in der Kita von weiblich gelesenen Personen abgeholt werden, könnte ich fragen: Ist das nicht komisch? Wo sind denn die Männer?, wenn wir jetzt hier in der Binarität Frau, Mann bleiben.Tarek wurde doch heute von seinem Papa abgeholt, wieso ist denn hier kein Papa im Bild? Oder: Ich sehe hier gar kein Kind mit Behinderung, seltsam, oder?
Wenn diskriminierende Wörter auftauchen, kann ich Kinder darauf hinweisen und erklären: Das Wort ist diskriminierend, weil es Menschen verletzt. Diese Menschen wollen nicht so bezeichnet werden. Das haben andere für sie ausgesucht. Und die Menschen identifizieren sich nicht damit. Es ist so, als wenn ich dich nicht mit deinem, sondern einem anderen Namen ansprechen.
Hier muss ich allerdings, gerade als Erzieher*in, aufpassen: Wenn ein Kind dabei ist, das diesen Identitätsaspekt hat, wird es wieder verletzt.
Und was, wenn Kinder sich selbst diskriminierend äußern? Zum Beispiel: „Aber zwei Mamas zu haben ist doch komisch“?

Hier sollte man unbedingt mit dem Kind ins Gespräch gehen: Warum denkst du das? Ist es, weil du niemand kennst, der zwei Mamas hat? In meinem Haus lebt ein Kind mit seinen beiden Mamas. Lass uns das mal weiter erforschen! Sich zu positionieren gegen Diskriminierung bedeutet auch, den Kindern Bildungsangebote zu Diskriminierung zu machen. Das ist die Aufgabe für pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen.

Hier geht’s zu den Kinderbuch-Tipps der Fachstelle Kinderwelten.

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