Emre Çelik (he/they)
Wir müssen mehr Räume schaffen, in denen offene Gespräche über Diskriminierung und Ungerechtigkeit geführt werden können - ohne Angst vor Vergeltung.
Mein Name ist Emre und ich arbeite als Employee Relations Partner, auf deutsch Antidiskriminierungsbeauftragter, bei Google. Zudem bin ich Gründer von Occtopus und Menschenrechtsaktivist.
Ich beurteile die Fairness und den Kontext bei Ermittlungen am Arbeitsplatz, Performance-Management und Umstrukturierungen. Außerdem bin ich dafür verantwortlich, potenzielle, arbeitsrechtliche Risiken zu identifizieren. All das basiert auf der Kultur, den Werten und der Integrität von Google.
Die Antidiskriminierungsstelle ist in Deutschland gesetzlich vorgesehen. Theoretisch sollte also jedes Unternehmen, das hier tätig ist, eine Beschwerdestelle haben. Es erstaunt mich jedoch immer wieder, wie wenig Unternehmen eine Anlaufstelle haben und wie unzureichend sie darauf vorbereitet sind, wie sie mit Diskriminierungsfällen umgehen sollen. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Misogynie, Rassismus, Heteronormativität und patriarchalen Strukturen, die auch am Arbeitsplatz existieren. Es ist daher erfolgskritisch, Räume zu schaffen, in denen offene Gespräche über Diskriminierung und Ungerechtigkeit geführt werden können, unterstützt von Fachexperten.
Ich würde Unconscious Bias Trainings in Schulen anbieten. Denn wir sollten so früh wie möglich ansetzen, um eine tolerante Gesellschaft zu erreichen.
Nur wenn Unternehmen für Vielfalt eintreten und dies kontinuierlich durch Trainings in ihrer Unternehmenskultur verankern, wird sich etwas verändern. Hier betonen wir beispielsweise die Möglichkeit, sich bei Anliegen an die Beschwerdestelle zu wenden. Bei uns gibt es keine festen Vorgaben, sondern verschiedene Möglichkeiten, in Kontakt zu treten. Dies kann anonym geschehen, unter Angabe des Namens, über Kollegen, Vorgesetzte oder direkt über den Betriebsrat.
Meine eigenen Erfahrungen trieben mich dazu, Gerechtigkeit zu suchen, da ich sie selbst als Kind nicht erleben durfte. Ich suchte stets nach jemandem, bei dem ich meine Sorgen, mein Leid und meine Schmerzen abladen und um Rat fragen konnte.
In der deutschen Community wurde mir beispielsweise immer geraten, mich in meiner türkischen Community aufzuhalten. Es gab in meiner Kindheit schon immer eine Aufteilung zwischen den türkischen Vierteln mit steinigen Bolzplätzen und den deutschen Fußballplätzen mit grünem Rasen und Toren. Dadurch entstand eine klare Trennung. Die deutsche Blase wurde oft als attraktiv angesehen, da sie für viele von uns Wohlstand und Schönheit symbolisierte. Ich befand mich jedoch qua Migrationshintergrund in der türkischen Blase und fühlte mich auch dort unwohl, da ich mich nicht mit der dort herrschenden Perspektivlosigkeit zufrieden geben wollte. Viele akzeptierten diese Trennung als Schicksal, aber ich habe diese Ungleichheiten immer infrage gestellt und auch immer wieder vorgeschlagen, die Bolzspiele zusammenzulegen – was allerdings von beiden Seiten aus scheiterte.
In meiner Schule wurde ich später dann häufig zur Anlaufstelle in den Pausen, wenn Probleme auftraten. Ich wusste meistens, wie ich reagieren sollte und wen ich kontaktieren könnte, um Hilfe anzubieten. Schon früh zeichnete sich ab, dass ich eine Leidenschaft für Themen hatte, die sich um Verständnis, Aufklärung und Chancen-Gerechtigkeit drehten.
Genau, es war nie eine Frage des „Ich bin deutsch“, sondern stets „Ich bin (Deutsch-)Türke mit Migrationsgeschichte”. Ich wurde von anderen Schülern stets in Schubladen gesteckt, während ich mich selbst natürlich ganz anders sah. Diese Etikettierung führte dazu, dass ich irgendwann begann, diese Kategorisierung als meine wahre Identität anzunehmen. Eigentlich strebte ich immer nur danach, einfach ich selbst sein zu können.
Später während meiner Suche nach Gerechtigkeit wagte ich mich beruflich dann in der Personalabteilung an komplexe Fälle, die andere mieden. Ich klärte Sachverhalte auf und führte innerhalb meines damaligen Unternehmens ein System ein, um sowohl Opfer als auch Täter angemessen zu schützen. Dadurch weckte ich das Interesse anderer Unternehmen für meine Arbeit. Heute bin ich mehrfach ausgezeichneter Antidiskriminierungsexperte. Diese Anerkennungen zeigten mir, dass ich vielleicht nicht so falsch lag, wie ich jahrelang dachte.
Alles, was mir einst verwehrt wurde, habe ich mir auf meinem Weg zurückgefordert, und heute kann ich offen über mich, meine Herkunft und meine Erfahrungen sprechen und meine Menschlichkeit sprechen. Ich habe meine eigene Freiheit zurückerobert.
In diesem Zusammenhang spielen Traumata eine bedeutsame Rolle. Wenn du ein Migrationskind in Deutschland bist, wird dir in der Schule oder im Job stets das Gefühl vermittelt, nicht “genug” zu sein. Dabei bin ich als Mensch bereits vollkommen und “genug”.
Daher strebte ich unaufhörlich nach Spitzenleistungen und versuchte, meine migrantischen Wurzeln abzulegen. Ich sehnte mich danach, jemand anderes zu sein und in der Fiktion anderer zu leben. Dies war letztlich der Motor für meinen Erfolg und meines Leidens.
Die Perspektivlosigkeit begleitet mich ebenfalls unaufhörlich. Ein sozial starkes Netzwerk, Lobby oder Beziehungen fehlten mir, Ängste begleiteten mich und das ist bis heute so geblieben. Stets habe ich im Hinterkopf, dass ich meine Angehörigen vor Altersarmut bewahren muss. Mein Antrieb ist daher immer, noch erfolgreicher zu werden, um unterstützen zu können und die Folgen der Diskriminierung für meine Familie zu minimieren.
Zwischen einem Einwanderungsland und einer erfolgreichen Integration sehe ich einen deutlichen Unterschied. Ein Einwanderungsland sollte Menschen aktiv integrieren, die hier arbeiten und Steuern zahlen sowie Menschen Schutz und Zuflucht bieten, die alles verloren haben und flüchten mussten. Doch oft werden sie in Niedriglohnjobs gesteckt, anstatt gleichberechtigt zu werden. “Gleichberechtigung” reicht in Deutschland häufig bis zur eigenen Nasenspitze und hört dann dort auf.
Das zeigt sich an der häufigen Nichtanerkennung ausländischer Qualifikationen und den extremen Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung. Vor allem aber ist es entscheidend, dass wir in Deutschland unser großes Diskriminierungsproblem anerkennen die Dank historisch gefestigter, faschistisch/autoritär konnotierter Ressentiments auch in der berühmten „bürgerlichen Mitte“ auf fruchtbaren Boden fällt und so die ohnehin schon marginalisierte Gruppe von Menschen weiter in Gefahr bringt, Opfer von gewalttätigen Übergriffen, Mobbing und Ausgrenzung zu werden.
Diese generationsübergreifenden Traumata verfestigen sich in marginalisierten Familien und äußern sich dann in einer überproportional hohen Kriminalitätsrate, Arbeitslosigkeit und geringer Bildungsbeteiligung. Dies führt in der breiten Gesellschaft oft zu der falschen Annahme, diese Probleme seien inhärent oder auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen, anstatt sie als Resultat jahrelanger Diskriminierung und Ausgrenzung zu begreifen.
Wir haben hier aus meiner Sicht zwei große Hebel: Auf der einen Seite sind es Menschen mit Macht, Geld und Einfluss. Von ihnen muss die Veränderung ausgehen. Durch meinen Einsatz im Unternehmensumfeld ist es mir ein Anliegen, dass Arbeitgeber diese Themen aufgreifen
Der zweite Hebel und der langfristig nachhaltigere ist natürlich die Bildung. Wir müssen bereits im Schul- und Bildungssystem Vorurteile abbauen, um bei Kindern frühzeitig ein Bewusstsein zu schaffen. Auf diese Weise legen wir den Grundstein für eine vielfältige Gesellschaft, die auf Individualität statt auf Normativität beruht.
Verschiedene alltägliche Begegnungen mit Kindern haben mir gezeigt, dass Eltern oft unsicher sind, wie sie Themen wie Vielfalt, Diskriminierung und Rassismus mit ihren Kindern besprechen können. Es ist so wichtig, dass Kindern die Möglichkeit gegeben wird, Fragen zu stellen, und dass diese Fragen angemessen beantwortet werden. Ihre Wahrnehmung von sich selbst wird oft von soziologischen Einflüssen geprägt, die sie beobachten. Beispielsweise könnten sie annehmen, dass nur Männer Piloten sein können, wenn sie nur männliche Piloten sehen. Solche frühen Annahmen, sei es über Geschlechterrollen oder andere Aspekte, können später zu Identitätskonflikten, Sprachlosigkeit oder sogar Depressionen führen. Und genau hier setzen wir an und betonen spielerisch die Bedeutung des Dialogs zwischen Eltern und Kindern. Wir unterstützen Eltern darin, die Sichtweise ihrer Kinder mit der Realität in Einklang zu bringen. Ein einfaches Beispiel ist ein kognitives Puzzle, bei dem Kinder verschiedene Berufe mit unterschiedlichen Menschen verknüpfen sollen. Dies kann aufzeigen, ob Kinder in Stereotypen denken, von denen sich Eltern möglicherweise nicht bewusst sind. Basierend auf diesen Erkenntnissen können Eltern dann Gespräche führen, um offen über Vorstellungen, Weltbilder zu sprechen und Stereotype, Unklarheiten und Missverständnisse auszuräumen.