Rebecka Heinz (sie/ihr)
In der neuen Lebenserfahrung ehemaliger Krebspatient*innen schlummern ungeahnte Potentiale.
Ich bin Managerin, Strategieberaterin, Mama, Ex-Brustkrebspatientin, Betroffenen Expertin und Gründerin der Plattform #einevonacht.
Beruflich arbeite ich als Interim-Managerin und springe in Kommunikationsabteilungen von Unternehmen ein, wenn durch Krankheit oder Personalwechsel Engpässe entstehen. Außerdem unterstütze ich als Sparringspartnerin junge Frauen in Führungspositionen, wenn sie in ihren Unternehmen als einzige Frau in der Männerriege am Konferenztisch sitzen. Ich habe selbst viele Jahre als Führungskraft in der Musikindustrie gearbeitet und für den Bundesverband Musikindustrie die Verleihungen der Deutschen Musikpreise geleitet. Ich weiß, was es heißt, die einzige Frau im Raum zu sein.
2019 habe ich mich selbstständig gemacht, 2020 wurde meine Tochter geboren und eineinhalb Jahre später, Ende 2021, wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert. Als ich erlebt habe, in was für ein Fahrwasser man nach so einer Diagnose gerät, habe ich Anfang 2022 während meiner Chemotherapie das Projekt #einevonacht gestartet und damit begonnen, Hintergrundgespräche mit ehemaligen Brustkrebspatientinnen zu führen. Inzwischen habe ich ein kleines Team am Start und wir entwickeln gemeinsam Angebote, die Frauen beim Umgang mit der Diagnose Brustkrebs unterstützen.
In Bezug auf den Umgang mit Krebs? Ganz klar: Alle Vorurteile wegnehmen. Beginner’s mind. Das würde das Leben leichter machen. Dann würden alle viel mehr in der jetzigen Situation, bei ihrem jetzigen Gegenüber bleiben und nicht ihren ganzen eigenen Kanon an Ängsten und Befürchtungen mit in die Situation bringen.
Das Projekt #einevonacht hat sich sehr schnell entwickelt und es kommen immer mehr Angebote dazu. Unser Ziel: Brustkrebspatientinnen den Umgang mit dieser unfassbar ätzenden Diagnose so einfach wie möglich zu machen.
Jede achte Frau bekommt irgendwann in ihrem Leben Brustkrebs. Das sind 70.000 Frauen pro Jahr, allein in Deutschland. Knapp die Hälfte von ihnen ist unter 55.
Das ursprüngliche Ziel von #einevonacht war, das Wissen und die Geschichten von anderen Ex-Brustkrebspatientinnen zusammenzutragen und eine positiv-stärkende Meta-Seite zu bauen, auf der die „neuen“ Brustkrebspatientinnen sich inspirieren lassen können. Eine Seite, die sie nach für sie persönlich passenden Tipps durchstöbern können.
Je mehr Gespräche ich dann aber mit betroffenen Frauen geführt habe, desto mehr habe ich verstanden, dass das Problem viel größer ist, als ich dachte. Es fehlt an vielem. Es fehlen Angebote jenseits der medizinischen Therapie, zur Klärung von strategischen Fragen hinsichtlich der Positionierung im beruflichen Kontext, zur mentalen Stärkung. Es fehlt Hilfe beim Wiedereinstieg in den Arbeitsalltag. Es fehlen Schutzräume, in denen offen über Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen gesprochen werden kann. Aus Sicht der Betroffenen und aus Sicht der Arbeitgebenden.
Da setzen wir an. Und zwar nach dem integralen Ansatz. Wir arbeiten nicht nur mit den Betroffenen, sondern auch mit dem organisatorischem Umfeld. Wir schlagen die Brücke zwischen persönlicher Krankheit und Unternehmenskontexten. Wir gucken uns das komplette System an.
Beim Diversity Management geht es darum, die Vielfalt in Unternehmen zu stärken. Es geht darum, verschiedene Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Perspektiven in die Prozesse einzubeziehen.
Und nichts verändert den Blick auf das Leben, auf den Beruf, so sehr wie eine potenziell lebensbedrohliche Krankheit. Der Horizont wird in dieser Zeit ums Unermessliche verschoben, erweitert – die Leute bringen neue Perspektiven mit in den Berufsalltag, aber eben auch neue Anforderungen und Bedürfnisse.
Wenn man in Diversity-Clustern denkt, würden die Krebspatient*innen in die Kategorie der Schwerbehinderten fallen. Ich habe aber basierend auf den bisherigen Gesprächen, die für das Projekt #einevonacht geführt habe, den Eindruck, dass der Stempel „Schwerbehinderung“ eher kontraproduktiv für einen Wiedereinstieg in den Berufsalltag auf Augenhöhe ist, auch wenn er rechtlich natürlich hilfreich ist.
Viele Frauen, mit denen ich für das Projekt #einevonacht gesprochen haben, berichten von Diskriminierung, Stigmatisierung, bewusster oder unbewusster Ausgrenzung, teilweise von „Zwangs-Versetzungen“ und „betriebsbedingten“ Kündigungen. Es ist unfassbar, was da offenbar in einigen Unternehmen los ist. Und das müssen wir uns genau ansehen und auf den Prüfstand stellen.
Groß angelegte Kampagnen wie der „Working with Cancer Pledge“ sind zwar schön, um das Thema Krebs in die Öffentlichkeit zu bringen, aber wir müssen kritisch hinterfragen, was die Firmen wirklich tun – und was die Betroffenen wirklich brauchen.
Rückkehrer*innen-Management ist hier das Stichwort. Grundsätzlich würde ich bei Krebs und Diversity statt dem Blick aufs eventuell temporär Defizitäre viel stärker die neue Lebenserfahrung bzw. die überstandene persönliche, gesundheitliche Grenzerfahrungen in den Vordergrund stellen und gewinnbringend für die Unternehmen einsetzen. Da schlummern ungeahnte Potenziale und Ressourcen.
Das klingt immer so kompliziert, ist aber im Prinzip ganz einfach: Sorgt dafür, dass die Menschen bei euch so sein können, wie sie sind. Mit dem, was die jetzige Lebensphase gerade mitbringt. Dass sie sich geschätzt und gesehen fühlen. Dass sie keine Diskriminierungserfahrungen machen. Seid offen, versucht herauszufinden, was ihnen helfen würde, was sie brauchen, um ihren Job gut zu machen. können. Sie werden es euch danken. Studien und Literatur dazu gibt es zuhauf. Und das gilt nicht nur für Krebspatient*innen.
Uns wird von unseren Ärzt*innen gesagt, dass es verschiedene Faktoren gibt, die die Entstehung von Krebs begünstigen können. Dass wir nach der Krankheit umso mehr auf uns aufpassen sollen, um die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs zu senken. Wir sollen viel Sport machen, mehrmals pro Woche. Wir sollen uns gut ernähren. Wir sollen für unsere mentale Gesundheit sorgen, meditieren und keinen Stress haben. Und uns Auszeiten nehmen.
Ist das kompatibel mit einem normalen Arbeitsalltag? In der Regel nicht. Und das ist oftmals das Dilemma von Betroffenen. Sie kommen oft ziemlich schnell an den Punkt, an dem die Welt der medizinisch-ganzheitlichen Ratschläge auf ihre Alltagsrealität von früher trifft. Die Frage ist, wie sie damit umgehen.
Thematisieren sie es, bekommen sie vermutlich eine Sonderbehandlung. Nicht gut fürs Teamgefühl und schwierig für die Zusammenarbeit auf Augenhöhe, wenn die einen ohne Pause durchziehen und die anderen Feierabend machen, um zum Sport zu gehen oder tagsüber für Kontrolluntersuchungen außer Haus sind.
Thematisieren sie es nicht, bauen sich über kurz oder lang innere Widerstände und Konflikte auf.
Unsere Arbeitswelt verändert sich zum Glück. Aber wir müssen Selbstfürsorge vorleben und flexible Modelle schaffen. Es muss o.k. sein, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, auf sich aufzupassen. Es muss okay sein, mal ein paar Tage neben der Spur zu sein, weil man zu einer Untersuchung muss, in der gecheckt wird, ob man wieder einen Tumor hat oder nicht.
Und da sind wir dann beim Thema Mental Health, Mental Fitness, wie auch immer man das nennen möchte. Für mich sind Menschen, die Krebs hatten, Mental Health Role Models. Diese Krankheit erfordert Mental Health hoch zehn. Und ein nicht vorstellbares Maß an Energie, Kraft, positivem Denken und Zuversicht. Und wenn man die Therapie hinter sich und alles überstanden hat, dann darf man auch mal kurz in ein Loch fallen – und sich neu sortieren.
Wenn Unternehmen hier flexibel bleiben und in der Wiedereinstiegsphase an der Seite ihrer Mitarbeitenden stehen, wenn sie es schaffen, diese „neuen“ Menschen mit vielleicht temporären Einschränkungen aber gleichzeitig mit ungeahnten Potentialen gut in ihr Unternehmen zu integrieren, werden sie unterm Strich davon profitieren.
Das erfordert Empathie, Offenheit, Verständnis, Toleranz und Kreativität. Jede Organisation muss für sich herausfinden, wie weit sie gehen kann und will. Die Unternehmenskultur lässt sich jedenfalls nicht durch einen Workshop verändern. Die Unternehmenskultur muss gelebt werden. Das ist manchmal ein langer Prozess. Für den es aber ja zum Glück Begleitung und Unterstützung gibt.
Ich glaube, dass es für alle Beteiligten hilfreich wäre, wenn wir offener mit der Krankheit umgehen würden. Wenn wir uns in einem geschützten Rahmen offen darüber austauschen könnten, was die Krankheit für uns persönlich bedeutet, was uns beschäftigt, was unsere Themen sind.
Nochmal in Bezug auf Brustkrebs: Jede Frau, jeder Tumor und jede Geschichte ist anders. Nur weil ich vielleicht von meiner Nachbarin gehört habe, dass ihre Schwester diese oder jene Nebenwirkungen hatte, heißt das nicht, dass das bei meiner Kollegin auch der Fall ist. Für manche Frauen ist das eine richtig, für andere das andere. Manchen hilft es, während der Therapiezeit zwischendurch zu arbeiten, andere haben andere Nebenwirkungen und wären dazu nicht in der Lage.
Wir können nicht wissen, was unser Gegenüber braucht. Aber wir können es herausfinden. Und als Unternehmen, als Führungskräfte, als Kolleg*innen alles in unserer Macht stehende tun, um die betroffene Person so gut es geht zu unterstützen. Aber dafür müssen wir lernen, darüber zu sprechen.
Verknüpft uns mit den Leuten in euren Unternehmen, die Budgets für Personalentwicklung und Pilotprojekte freigeben können! Verknüpft uns mit euren DEI-Expert*innen, ladet uns als Speaker*innen zu Panels, Lunch & Learn-Formaten, Workshops ein. Werdet Sponsor*innen!
Helft uns, offen mit der Krankheit umzugehen und Führungskräfte, Mitarbeitende, Teams für den Umgang mit Betroffenen zu sensibilisieren. Wir können uns theoretisch darauf vorbereiten und Kompetenzen entwickeln, die uns helfen, für künftige Situationen gut gerüstet zu sein.
Jede*r Zweite bekommt irgendwann im Leben Krebs. Die Wahrscheinlichkeit ist also ziemlich hoch, dass wir – solange es noch keinen Impfstoff gibt – irgendwann selbst direkt oder indirekt mit der Krankheit zu kämpfen haben werden. Lasst uns darüber sprechen.