Almut Schnerring (sie/ihr)

Die eigentliche Ursache der Geschlechterungleichheiten ist die unfaire Verteilung der Sorgearbeit.
© Larissa Neubauer
Wer bist du und was machst du?

Ich bin Autorin, Journalistin und im deutschsprachigen Raum viel mit Vorträgen und Workshops unterwegs. Mein Thema ist die Wahlfreiheit bzw. das, was ihr im Wege steht: limitierende Rollenbilder. Dabei geht es mir oft, aber nicht ausschließlich um Geschlechterrollen und die Frage: wie sind wir eigentlich geworden, was wir sind? Wie wir uns verhalten, was uns gefällt oder stört, und wie zufrieden sind wir jeweils damit. Wo fühlen wir uns eingeschränkt in unseren Möglichkeiten und wie können wir ermöglichen, dass die nächste Generation mehr Wahlfreiheit hat? Welche Strukturen und gesellschaftlichen Normen stehen dem im Weg?

Nach vielen Jahren des Schreibens und Sprechens ist mir bewusst geworden, dass es mehr braucht als kluge Texte und wissenschaftliche Studien, um eine wirkliche soziale Veränderungen zu bewirken, es braucht den Zusammenschluss von aktiven und engagierten Menschen, die gemeinsam diesen Wandel vorantreiben und den gesellschaftlichen Druck so sehr verstärken, dass sich auch auf politischer Ebene etwas verändert.

Seitdem versuche ich, zum Beispiel mit dem ‚Equal Care Day – Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit‘ und dem ‚Goldenen Zaunpfahl – Award für absurdes Gendermarketing‘ offene Dialog-Räume und Netzwerke zu schaffen.

 

Wenn du eine Sache in Deutschland ändern könntest, was wäre das?

Mit dem Fokus auf Gleichberechtigung war der Lebensentwurf meiner Eltern nicht ideal, aber typisch für die Mittelschicht in den 1970er-Jahren: mein Vater hat Vollzeit gearbeitet und meine Mutter stundenweise dazuverdient. Alles in allem jedenfalls haben gut 50 Wochenstunden Erwerbsarbeit gereicht, um eine Familie zu versorgen. Heute gibt es einen Aufschrei, wenn wir und viele andere genau das fordern, eine 25h-Vollzeit. Denn was für ein Modell ist das, bei dem zwei Berufstätige gemeinsam keine Familie ernähren können, sondern teilweise sogar mehrere Jobs jonglieren?  Es kann doch nicht sein, dass Alleinerziehende für zwei arbeiten müssen, sodass keine Zeit für Care, Kinder und Leben bleibt! Also bitte 25 Wochenstunden als neues Maß für eine Vollzeitstelle, gerne ab morgen.

Wie kam es zu eurem Buch ‚Die Rosa-Hellblau-Falle‘ und was ist seitdem passiert?

Ich habe drei Kinder mit einem Altersabstand von jeweils 2 Jahren. Als Eltern waren mein Partner und ich in der Kita-Zeit erschrocken und fasziniert zugleich, wie schnell sich die Lebensumstände der Kinder zwischen 2005 und 2010 veränderten, wie schnell und massiv sich diese strikte Farbzuordnung in Rosa und Blau durchsetzte. Und es sind ja nicht nur Farben, sondern ganze Welten, die da plötzlich nach Geschlecht getrennt angeboten wurden, auf der einen Seite Technik und Abenteuer, auf der anderen Seite Haushalt und Schönheit. So kam es zu dem Buch. Und dann ist erst einmal gar nichts passiert, weil sich vor 10 Jahren noch nicht so viele wie heute für dieses Thema interessiert haben.

Erzieher*innen und Lehrkräfte waren noch mehr als heute der festen Überzeugung, dass sie geschlechtersensibel arbeiten (zahlreiche Studien belegen, dass für die Mehrheit leider nicht stimmt), Eltern glauben auch überwiegend, dass sie ihre Kinder gleich behandeln (was weder möglich noch wünschenswert ist), und für Politik und Medien war die fortwährende Reproduktion von Geschlechterrollen noch nicht einmal ein Randthema.

Das hat sich zum Glück inzwischen verändert und das Bewusstsein und der Widerstand wachsen beständig, und der Begriff ‚Rosa-Hellblau-Falle‘ ist vielen zum Schlagwort für das Phänomen des ‚Unconscious Gender Bias‘ geworden.

Ihr seid die Initiator*innen des Equal Care Days. Warum ist Equal Care wichtig für uns als Gesellschaft? Inwiefern ist Equal Care auch aus Arbeitgebersicht relevant?

Equal Care, also die faire Verteilung der Sorge- und Versorgungsarbeit, ist die Grundvoraussetzung für eine gleichberechtigte Gesellschaft. Dabei geht es nicht allein um die Kategorie Geschlecht, sondern auch um Herkunft, Klasse, Bildungssozialisation. und so weiter.

Wenn wir uns dann anschauen, wer es in Politik, Verbänden und Wirtschaft, in Medien, Kultur und Wissenschaft an die Schaltstellen schafft und damit über Entscheidungsmacht verfügt, dann sind das Menschen, meistens weiße Männer, die persönlich nur wenig Care-Verantwortung  übernehmen. Im Umkehrschluss heißt das, dass Menschen in Care-Verantwortung auf eigentlich allen gesellschaftlichen Ebenen benachteiligt und unsichtbar gemacht werden.

Für Arbeitgeber*innen ist das Thema Equal Care in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen ist die ungleiche Verteilung der privaten Sorgeverantwortung einer der Hauptgründe, weshalb vor allem Frauen im Beruf zurückstecken und den Unternehmen dadurch auf lange Sicht verloren gehen.

Zum anderen ist aber auch innerhalb der Unternehmen die Sorgearbeit ungleich verteilt, die so wichtig ist für den Zusammenhalt, die Stimmung und den Erfolg von Arbeitsteams. Das wird zu selten gesehen und führt dazu, dass Frauen und ihr Beitrag systematisch unterbewertet werden.

Um diesem Missstand auf die Spur zu kommen, habe ich zum Beispiel zusammen mit Patricia Cammarata den MentalLoad-Test@Work entwickelt.

Was muss sich aus deiner Sicht ganz konkret in Deutschland in den kommenden 3-5 Jahren verändern, damit wir eine Chance auf eine gleichberechtigte Gesellschaft haben?

Wir reden schon sehr lange und immer noch viel über Equal Pay, über Frauen in Führungspositionen und Repräsentation in Politik und Medien. Das sind wichtige Themen, aber letztlich behandeln wir damit nur die Symptome und nicht die eigentlichen Ursachen der Ungleichheit. Das ist der Grund, warum in den vergangenen Jahrzehnten auch so wenig passiert ist.

Die eigentliche Ursache der Geschlechterungleichheiten ist die unfaire Verteilung der Sorgearbeit. Und die tritt nicht erst ein, wenn Menschen erwachsen sind und Familien gründen, diese Ungleichheit wird eingeübt, weil schon kleine Mädchen sehr viel stärker und selbstverständlicher in die alltägliche Familienarbeit mit einbezogen werden und mehr Verantwortung übernehmen müssen als ihre Brüder. Und von da an geht die Schere immer weiter auseinander.

Was wir also in den kommenden 3 – 5 Jahren ändern sollten und auch können, wäre zum Beispiel eine Anpassung des gesamten Bildungssystems, damit es nicht mehr nur auf die spätere Erwerbsbiografie vorbereitet, sondern Kinder und Jugendliche ermächtigt und ermutigt, auch eine Care-Biografie zu entwickeln und zu leben.

Wenn Kinder mit anderen, fairen Rollenvorstellungen in die Berufswelt hineinwachsen, besteht die Chance, dass sich ein Wirtschaftssystem entwickelt, das nicht mehr auf der Ausbeutung von Care-Arbeit basiert.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Narrativ durchgesetzt, dass Care-Arbeit teuer und belastend ist und von den anderen Wirtschaftsbereichen erst einmal finanziert werden müsse.

Das ist grundfalsch: Ohne Care-Arbeit gibt es gar keine Wirtschaft, keine engagierten, gut ausgebildeten, empathischen, teamfähigen Menschen, die Unternehmen einstellen könnten. Unser Wirtschaftssystem funktioniert ja nur, weil wir diesen Missstand bewusst übersehen, weil wir diejenigen ins Unsichtbare drängen, die dafür sorgen, dass Firmen Mitarbeitende finden, die im wahrsten Sinne des Wortes „versorgt“ sind: als Kind gefüttert, gewickelt, getröstet, als junger Mensch gebildet, gestärkt und motiviert.

Das Bildungs- und das Wirtschaftssystem, das sind nur zwei Bereiche, Care durchzieht aber das ganze Leben von der Wiege bis zur Bahre. In meinem Buch Equal Care, über Fürsorge und Gesellschaft (zusammen mit Sascha Verlan) habe ich weitere notwendige, strukturelle Veränderungen für eine care-sensible Gesellschaft zusammengefasst.

Es ist an der Zeit, dass sich Politik und Wirtschaft Care-Arbeit als einen unerlässlichen Wert anerkennen und entsprechend einkalkulieren in ihre Modelle und Finanzierungspläne.

Wo seht ihr aktuell bei eurer Arbeit die größten Hürden und warum?

2016, als wir die Idee eines Equal Care Day zum ersten Mal öffentlich gemacht haben, waren wir zu zweit. 2020 dann, als wir mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung den Equal Care Day im Rahmen einer zweitägigen Konferenz begehen konnten, waren wir ein ganz kleines Team und im Kern immer noch nur zu dritt. Der Aufbau der Initiative samt Finanzierung läuft seitdem immer hinterher und eben parallel zur inhaltlichen Arbeit.

Und wir stellen uns immer wieder die Frage, was alles möglich wäre, wenn die finanzielle und organisatorische Basis gegeben wäre. Aber im politischen und medialen Kontext wird der Care-Bereich stark untergliedert (und gegeneinander ausgespielt): privat vs. beruflich, Erziehung, Bildung und Sozialarbeit, Medizin, Pflege, Geburtshilfe und Psychotherapie, Reinigungswesen, ambulant vs. stationär … und für jeden Teilbereich gibt es dann unterschiedliche, wechselnde und sich überschneidende Zuständigkeiten. Das macht es schwierig bis unmöglich, zu gemeinschaftlichen, solidarischen und nachhaltigen Lösungen und Veränderungen zu gelangen.

Mit der Pandemie sind die Anfragen an uns gestiegen, und doch haben wir als Initiative keine Grundförderung. Wir haben keine Geschäftsstelle, keine Sponsor*innen und nur ein paar wenige Fördermitglieder.

Das heißt, wir stemmen alle Arbeit im Ehrenamt. Mehr Rückendeckung aus den Unternehmen und Verbänden, die unsere Arbeit wichtig finden, ist deshalb ein dringender Wunsch.

Wo stößt du im Alltag an deine Grenzen bzw. ihr als Familie, wenn es um Stereotype oder Equal Care geht?

Natürlich sind wir so wie alle ständig mit der eigenen Sozialisation und verinnerlichten Stereotypen konfrontiert. Und mit einem z.B. medialen oder schulischen Umfeld, das dieses Problem noch nicht einmal als solches wahrnimmt. Ich würde gerne öfter wegschauen können, loslassen und es unwichtig finden. Aber ich erlebe mit meinen Kindern ja, wie präsent die Klischees überall sind und wie sehr sie Kinder einschränken. In der Werbung, Spielwaren, Kleider, Lebensmittel, in Filmen und Büchern immer wieder diese stereotypen Vorbilder und eine Welt, die nicht unseren Idealen entspricht, die eben keine wirkliche Wahlfreiheit lässt, sondern klare Vorgaben machen, wie ein richtiger Junge/Mann zu sein hat, und wie ganz anders eine echte Frau/Mädchen.

Dazu kommen die politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen, die eine gleichberechtigte Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit gar nicht vorsehen. Ich teile mir Care- und Erwerbs-Arbeit mit meinem Partner und damit müssen wir uns immer wieder rechtfertigen und erklären. Außerdem ist bei uns wie bei vielen anderen auch die Arbeitsbelastung mit drei Kindern in den vergangenen Pandemie-Jahren derart gestiegen, dass wir immer wieder Abstriche machen müssen vom Leben, wie wir es eigentlich gerne führen würden.

Ich wünschte, Menschen, die Care-Arbeit tragen, ob nun für Kinder, für die Angehörigen, für die Nachbarin… würden mehr gesehen und ihr gesellschaftlicher Beitrag nicht als private Entscheidung beiseite gewischt.

Wie kann man eure Arbeit konkret unterstützen?

Direkt mitmachen am Equal Care Day 2024 durch ein eigenes Projekt im Rahmen unserer Kampagne #GeschenkterTag! Mehr Informationen dazu findet ihr hier.

 

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