Prof. Dr. Karim Fereidooni (er/ihm)

Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik ist essentiell für nachhaltige Veränderungen.
Wer sind Sie und was machen Sie?

Ich bin Karim Fereidooni, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, an der ich zukünftige Politiklehrkräfte ausbilde. Meine Fachexpertise liegt in der Didaktik der Sozialwissenschaften und mein Fokus liegt auf Rassismuskritik, Diversitätsensibilität und politischer Bildung in einer Migrationsgesellschaft. Zudem arbeite ich kontinuierlich an unterschiedlichen Forschungsprojekten. 

Über drei Jahre hinweg haben wir als Team beispielsweise Antisemitismus in Schulen untersucht. Ebenfalls abgeschlossen ist unsere Arbeit an einem Bericht über Muslimfeindlichkeit und die Entwicklung eines Maßnahmenkatalogs für die Bundesregierung. Ein weiteres Projekt widmet sich zum Beispiel den Vorstellungen von Partizipation und Demokratie bei Schüler*innen – sowohl bei Geflüchteten als auch Nicht-Geflüchteten. Hierbei haben wir verschiedene Schüler*innen des Berufskollegs befragt. Diese Forschung wurde durch meine Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleiter*innen inspiriert, in denen ich oft auf Annahmen gestoßen bin, die besagten, dass zum Beispiel geflüchtete Schüler*innen aufgrund ihrer Herkunft Demokratie nicht begreifen könnten. Unsere Forschung widerlegt diese Annahme ganz klar und zeigt, dass geflüchtete Schüler*innen sogar positivere Ansichten zur Regierungsform der Demokratie und zum deutschen Grundgesetz haben als ihre nicht geflüchteten Mitschüler*innen.

Wenn es nur eine Sache gäbe, die Sie heute direkt in Deutschland verändern könnten, was wäre das?

Definitiv würde ich die frühzeitige Selektion von Kindern nach der 4. oder 6. Klasse aufheben. Die Trennung der Schüler*innen auf weiterführende Schulen zu diesem Zeitpunkt ist die größte Herausforderung im deutschen Bildungssystem. Pädagogische Prognosen können in dem Rahmen, basierend auf den bisherigen Leistungen und Verhalten, gar nicht getroffen werden, jedoch beeinflussen diese Entscheidung stark, ob jemand später Akademiker*in wird oder nicht. Unsere frühe Selektion ist international gesehen sehr ungewöhnlich. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Schüler*innen, die sich anstrengen, es schaffen werden, trotz einer Hauptschulempfehlung später aufzusteigen. Tatsächlich zeigen Studien, dass wenn es im Laufe einer Bildungsbiographie an der weiterführenden Schule zu Schulformwechseln kommt etwa 60% der Schüler*innen  auf eine prestige niedrigere Schulform wechseln, während nur etwa 20% aufsteigen . Aus diesem Grund halte ich die Reform unseres Bildungswesens für einen entscheidenden Schritt hin zu einem gerechteren deutschen Bildungssystem. Wir brauchen nicht mehr Schulformen, sondern eine gute ausgestattete Schulform für alle Schüler*innen.

0:00/0:00
Wie verlief ihr Weg hin zu Ihrer wissenschaftlichen Karriere?

Mein Interesse für Politik wurde in einem politisch engagierten Elternhaus geweckt. Als Kind träumte ich von einer Karriere als Bundestagsabgeordneter. Politik war stets das Gesprächsthema, da wir aus politischen Gründen aus dem Iran nach Deutschland geflohen sind. Mein Studium der Politikwissenschaft und Germanistik folgte und bei meinem Erasmus-Semester in Schweden entdeckte ich meine Leidenschaft zur Forschung. Meine Staatsexamensarbeit über institutionelle Diskriminierung bei Kindern mit Migrationshintergrund erweiterte ich zu einer ersten Buchveröffentlichung und in meiner Promotion widmete ich mich den Rassismus-Erfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen. Mit einem Stipendium der Stiftung der deutschen Wirtschaft habe ich  nach dem Referendariat promoviert. Nach Ende des Stipendiums habe ich ein Jahr als angestellter Lehrer gearbeitet; in dieser Zeit habe ich die Dissertation beendet. Ich hatte das Glück, drei Monate nach der Disputation die Juniorprofessur zu bekommen. Nach sieben Jahren als Juniorprofessor bin ich seit Juli 2023 Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung. Glück spielt immer eine Rolle für Erfolg, aber auch Fleiß, Disziplin, gute Ideen und vor allem auch die Wertschätzung anderer. Gerade im Bereich Chancengerechtigkeit, ist es zentral zu verstehen, dass unser Erfolg niemals allein auf Basis individueller Kompetenz und Fleiß, sondern immer auch auf Anerkennung von außen und auf Menschen basiert, die uns zu einem bestimmten Zeitpunkt fördern.

Was sind die zentralen Erkenntnisse Ihrer Forschungsarbeit der vergangenen Jahre?

Eine Haupterkenntnis ist, dass Lehrkräfte, die zuvor im Fragebogen angaben, keine Rassismus-Erfahrungen zu haben, in  Interviews plötzlich von vielfältigen Rassismus-Erlebnissen in der Schule berichteten. Diese Diskrepanz zwischen den Aussagen im Fragebogen und den in den Interviews genannten Erfahrungen war für mich besonders aufschlussreich. Sie verdeutlicht, dass wir zwar teilweise gelernt haben, über unsere Erfahrungen mit Rassismus zu sprechen, jedoch dafür nicht immer den Begriff „Rassismus“ verwenden. Ähnliche Verhaltensmuster kennen wir aus der Sexismus-Forschung, wo häufig andere Gründe für Ungleichheiten vorgeschoben werden als Sexismus per se.

In Bezug auf Anti-Muslimischem Rassismus haben wir verschiedene Sektoren wie Medien, Bildung, Politik und Rechtsprechung untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Muslimfeindlichkeit nicht auf bestimmte Bereiche begrenzt ist, sondern in der gesamten Gesellschaft präsent ist.

In Bezug auf Rassismuskritik, Diversität und Antisemitismus gibt es solide wissenschaftliche Erkenntnisse, die schon seit Jahrzehnten vorliegen.  Es gibt somit kein Erkenntnis-Defizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Das Problem liegt eher in der Umsetzung der Lösungen. Deshalb engagiere ich mich in der Politikberatung, um wissenschaftliche Erkenntnisse in den gesellschaftlichen Diskurs und in die Politik  einzubringen. Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik ist essentiell für nachhaltige Veränderungen. Universitäre Forschung und Lehre allein führen nicht zu gesellschaftlichem Wandel. Um eine vielfältige und sensible Gesellschaft zu gestalten, ist der Dialog mit Entscheidungsträger*innen daher unerlässlich. Hierbei gilt es natürlich auch, die unterschiedlichen Logiken von Wissenschaft und Politik zu beachten.

Es scheint aktuell, dass auch Politiker*innen vermehrt auf Polemik und Demagogie zurückgreifen, um Stimmen am rechten Rand zu gewinnen. Ist dieser Eindruck lediglich subjektiv oder ist hier tatsächlich ein Trend zu beobachten?

Ich denke, dass wir hier vor allem über Gleichwertigkeit sprechen müssen. Deutschland ist heutzutage so rassismuskritisch wie nie zuvor in seiner Geschichte. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die sich öffentlich für die Rechte diskriminierter Personen aus allen Bereichen einsetzen. Gleichzeitig gibt es jedoch eine kleine, laute Minderheit, die versucht, queere Rechte einzuschränken, Hetze gegen Geflüchtete betreiben und Rassismus wieder hoffähig machen will. Social Media trägt dazu bei, dass uns diese kleine Minderheit größer erscheint als sie tatsächlich ist.

Deshalb müssen wir uns alle täglich für unsere plurale Demokratie einsetzen, um die Werte der Grundgesetzes  an jede Generation weiterzugeben. Die AfD erreicht aktuell in Thüringen etwa 30%, was auf diverse Problemlagen hinweist. Öffentliche Streitereien der Regierungskoalition in wirtschaftlich schwierigen Zeiten tragen zu dem Eindruck bei, dass die Regierung die Kontrolle besitzt, gute Lösungen für Probleme unseres Landes zu entwickeln. Unsichere Zukunftsprognosen, globale Krisen und sozialer Abstieg aufgrund von Preisentwicklungen begünstigen Parteien, die einfache Lösungen zu bieten scheinen. In Bezug auf die AfD-Wähler*innen zeigen Studien jedoch, dass vor allem Rassismus die treibende und einende Kraft ist. Vor allem die Zustimmung zu rassistischen Aussagen spielt bei  AfD-Wählern in Thüringen eine große Rolle. Deshalb wird die AfD auch nicht verschwinden, da rechte Einstellungen in der Gesellschaft vorhanden sind und auch bleiben werden – wie in anderen europäischen Staaten auch.

Hier sollten wir uns aber der Theorie der unsicheren Mitte bewusst sein, denn es geht um eine Minderheit: Sie besagt, dass 20% unserer Gesellschaft bereits sehr sensibel sind und sich gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit engagieren. Weitere 20% sind mit Workshops, Vorträgen, Büchern und Podcasts nicht mehr erreichbar. Diese Gruppe lehnt Diversitäts-Sensibilisierung und Rassismus-Kritik ab und äußert sich auch antisemitisch. Es muss daher um die verbleibenden 60% gehen, die unsicher sind. Diese Gruppe können wir erreichen, aber nicht mit rechten Parolen, da sie sonst zum rechten Rand abdriften könnte. Wir können sie mit rassismuskritischen Maßnahmen und einer diversitätssensiblen Politik gewinnen. Das sollte das Ziel aller demokratischen Parteien sein. 

Was verstehen Sie unter Diversität?

Für mich bedeutet Diversität zu verstehen vor allem eine intersektionale Perspektive anzuwenden, in der verschiedene Lebensrealitäten miteinander in Einklang gebracht werden. Dabei geht es beispielsweise nicht nur um meine eigenen Rassismus-Erfahrungen als Mann of Color. Wenn ich zum Beispiel von meinen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche spreche, muss ich gleichzeitig erwähnen, dass ich Professor bin, da dies die Situation verändert. Ich erkenne, dass meine Berufsbezeichnung, aber eben auch mein Name, Einfluss auf meine Chancen haben, sei es bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Eine intersektionale Perspektive erfordert, sich bewusst mit den Privilegien und Ungleichheiten in verschiedenen Lebensbereichen auseinanderzusetzen und Power-Sharing zu betreiben. Ich als heterosexueller Cis-Mann erkenne, dass ich keine Erfahrungen mit Sexismus oder Queerfeindlichkeit gemacht habe. Diese intersektionale Sichtweise beeinflusst meine Lebensgestaltung und politischen Maßnahmen, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Diversitätssensibilität bedeutet für mich, mich nicht nur auf eine bestimmte Diskriminierungsform zu fokussieren, sondern mich breit zu informieren und aktiv gegen Diskriminierung in allen seinen Facetten vorzugehen. So kann ich  aktiv dafür eintreten, dass auch an unseren Universitäten genderneutrale Toiletten installiert werden können, auch wenn es mich direkt nicht betrifft. Solidarität zwischen ungleichen Gruppen ist entscheidend, und ich wünsche mir, dass beispielsweise Aktivist*innen, die sich gegen antimuslimischen Rassismus engagieren, auch gegen Queerfeindlichkeit vorgehen. Dies ist echte Solidarität, die auf das Wohl anderer ausgerichtet ist und nicht auf eigenen Interessen beruht. Nur so können wir am Ende eine inklusive Gesellschaft erreichen.

Was bringt uns mehr Diversität, Chancengerechtigkeit und Inklusion im Alltag?

Chancengerechtigkeit und Inklusion eröffnen Zugänge zu Bildung, Gesundheitswesen und anderen Bereichen für alle. Eine vielfältige Gesellschaft, die für alle lebenswert ist, steigert automatisch unsere wirtschaftliche Produktivität, indem wir verschiedene Perspektiven einbeziehen. Es geht nicht um Vorschriften, sondern um die Erweiterung unserer Wahrnehmung und Kompetenz. Indem wir uns mit Diskriminierung auseinandersetzen, ändern wir unsere Positionierung in der Welt und setzen uns gegen jede Form von Benachteiligung ein. Damit nähern wir uns  dem Ideal von Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes und dem Diskriminierungsschutz.

Wir sind ein Einwanderungsland und leben bereits in Vielfalt. Warum fällt es uns dennoch manchmal als Gesellschaft schwer, im Alltag damit umzugehen?

Viele denken, ihre Position resultiert ganz allein aus herausragender Leistung. Die hitzige Debatte um Frauenquoten entsteht, weil zum Beispiel privilegierte weiße Männer aus der Mittel- und Oberschicht befürchten, Verluste zu erleiden. Viele haben in der Gesellschaft viel erreicht – und das natürlich auch mit harter Arbeit – das möchte niemand abstreiten. Doch hohe Positionen erreicht man auch deshalb, wenn andere einen bevorzugen. Weiße deutsche Männer glauben immer noch stark an das meritokratische Prinzip („Wer viel leistet kommt schnell weiter, wer weniger leistet nicht“), aber Leistung verliert ab einer gewissen Karrierestufe an Bedeutung. Der Habitus, äußere Merkmale und Gemeinsamkeiten spielen in prestigeträchtigen Positionen eine entscheidende Rolle. Viele fühlen sich benachteiligt, ignorieren aber ihre jahrelange Protektion von Wohlgesonnenen in relativ homogenen Systemen. Der Abgleich von Lebensrealitäten kann hier helfen und die Sensibilisierung für Ungleichheiten kann die Gesellschaft diversitätssensibler machen. Doch ich glaube auch an handfeste gesetzliche Maßnahmen. Der öffentliche Dienst zeigt, wie Frauenquoten Fortschritte bringen. Private Unternehmen sollten ähnlich verpflichtet werden, um Veränderungen anzustoßen.

Was muss passieren, damit wir in Deutschland erfolgreich in Vielfalt zusammenleben können?

Es geht zunächst darum, überhaupt erst einmal ein positives gemeinsames Bild für die Zukunft zu entwickeln. Wir sollten  darüber reden, welcher Mehrwert  eine diverse und inklusive Gesellschaft allen Bürger*innen bietet.

Ein zeitgemäßes Einwanderungsgesetz, das die Fähigkeiten und Kompetenzen der Menschen berücksichtigt, ist dafür  unabdingbar. Ein zentraler Fokus liegt auf der Schaffung von inklusiven Zugängen für alle, um eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen. NGOs setzen sich zudem dafür ein, dass Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und ohne Pass an Bundestags- und Landtagswahlen teilnehmen können. Dies schafft das Bewusstsein dafür, dass Wohnort, Einbindung und Steuerzahlungen von Bedeutung sind.

Ich hege zudem die Hoffnung, dass Politiker*innen aus dem demokratischen Spektrum anerkennen, dass der Migrationshintergrund weder in der politischen Landschaft noch im Bildungsbereich ein Stigma sein sollte: Politiker, Bildungseinrichtungen oder Lehrkräfte nutzen oft den Migrationshintergrund als Erklärung, um die eigentlichen Herausforderungen im deutschen Schulsystem zu umgehen. Die Schule bleibt an sich der einzige Ort, an dem verschiedene Schichten zeitweise aufeinandertreffen, das kann auch eine große Chance sein. Es ist an der Zeit, dass die Politik  zugibt, dass das Bildungswesen in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt wurde;in diesem Bereich  wünsche ich mir  mehr Investitionen.

Auch die Kürzungen der finanziellen Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung und insbesondere die Mittelkürzung für Organisationen wie HateAid, die sich aktiv gegen Rechtsradikalismus engagieren, sind Entwicklungen, die vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen dringend korrigiert werden müssen.

Sind Sie grundsätzlich optimistisch oder pessimistisch für die Zukunft gestimmt?

Ich bin von Natur aus optimistisch und glaube an meine eigene und die Veränderungsbereitschaft anderer Menschen. Wir haben bereits viel erreicht, sind sensibler geworden und haben hart dafür gekämpft, unsere Gesellschaft für möglichst viele Menschen lebenswert zu gestalten. Denjenigen, die behaupten, dass es sich nicht lohnt, sich politisch zu engagieren, sage ich: Schaut 40 oder 50 Jahre in die deutsche Geschichte zurück. Gleichgeschlechtliche Ehen wurden nicht einfach so zugelassen, es war ein harter Kampf. Gleichstellung von Geschlechtern ebenfalls. Wir sind zwar noch nicht vollständig gleichberechtigt, aber wir haben bedeutende Fortschritte gemacht.

Ich denke, es ist besser, den Neuzugängen in unserer Gesellschaft unseren Kampf um Gleichberechtigung zu zeigen und zu erläutern, anstatt sie mit Zwang zu konfrontieren und zu sagen, „So ist es bei uns.“ Wir sollten ihnen erzählen, wie wir zu dem Punkt gekommen sind, an dem wir heute stehen. Welche politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen stattgefunden haben. Das könnte eine pädagogisch sinnvollere Art sein, diese Menschen einzubeziehen. Wir müssen die Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennen und unsere Vision sollte sein, dass jede*r dazu gehört, die*der sich an unser Grundgesetz hält, ohne wiederholt seine Zugehörigkeit beweisen zu müssen. Wir müssen gegen Rassismus angehen und gleiche Chancen für alle bieten und besonders die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und diese Ideale mit Leben erfüllen.

Unterstütze uns, indem du unseren Inhalt teilst!